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Die Postmoderne hat uns um den Spaß am Verbotenen gebracht, behauptet der Psychoanalytiker und Philosoph Slavoj Zizek

In seinem Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" schreibt Walter Benjamin von der Notwendigkeit, den dialektischen Materialismus mit der Psychoanalyse und dem Medium des Films als dem massenwirksamsten Ort kapitalistischer Ideologieproduktion zusammenzuführen. Nur mit einem derartigen Programm sei im 20. Jahrhundert noch wirksame Ideologiekritik möglich.

Dieser Zusammenhang von dialektischem Materialismus, Psychoanalyse, Ideologiekritik und Analyse der Kultur- bzw. Filmindustrie steht im Zentrum der Arbeiten des slowenischen Philosophen und Psychoanalytikers Slavoj Zizek. Niemals verläßt er dabei die kategorialen Vorgaben Jacques Lacans, den analytischen Dreischritt des Realen, Symbolischen und Imaginären.

Zizek wendet eine an Lacan orientierte psychoanalytische Perspektive nicht allein auf die Philosophie und ihre Geschichte an, sondern auch auf Phänomene der zeitgenössischen Kultur- und Medienwelt und überträgt psychoanalytische und philosophische Theorien auf politische Phänomene wie den Totalitarismus, die Ideologie oder die Macht des Marktes.

In seinem neuen Buch "Liebe deinen Nächsten? Nein, danke!" beschäftigt sich Zizek mit dem Genuß und seinen Umwertungen, die er durch den heutigen globalisierten Kapitalismus erfährt. Bereits in "Liebe dein Symptom wie dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien" demonstrierte er, daß die Medien analog der Warenstruktur und der Struktur des Begehrens funktionieren. Das Subjekt und seine Persönlichkeitsstruktur sind auf einer tiefer liegenden Ebene nicht isoliert von medialen Kontexten zu verstehen.

Das Ziel seines neuen Buches ist - wie es der Untertitel "Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne" bereits vorgibt - eine Analyse und Kritik des Demokratiebegriffs und des Verständnisses des Sozialen im globalisierten Kapitalismus. Diesem Thema widmet sich Zizek anhand des beliebtesten und meistvariierten Gegenstands postmodernen Denkens: dem Anderen. Zizek beansprucht, sich "systematisch mit den Voraussetzungen dieser unserer Unfähigkeit auseinanderzusetzen, unsere Anderen auszuhalten". Dabei geht es Zizek allerdings nicht um den "Großen Anderen" - die Lacansche Chiffre für Gott.

Der Andere als Gegenstand der Bildung eigener Subjektivität, die Anderen als Objekt der Bildung gesellschaftlichen Bewußtseins - der Fremde, der Andere, ist in der Postmoderne für alle Subjekte zugleich Objekt des Begehrens und Objekt des Hasses. Der Andere sei für uns immer das, was Freud als "das Ding" bezeichnet hat - "die Verkörperung einer traumatischen, unerträglichen jouissance".

Mit diesem Lacanschen Begriff bezeichnet Zizek das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das den Anderen zum Gegenstand eigenen Genusses macht. Ähnlich wie in der "Dialektik der Aufklärung" von Adorno und Horkheimer ist die sublime Auseinandersetzung mit der Ethik Kants und de Sades für Zizek zentral. Der Andere als Selbstzweck, der nie als ein Mittel zu etwas anderem gebraucht werden darf, oder der Andere als ein Ding, das zu meinem eigenen Genuß zu gebrauchen und zu verbrauchen ist - scheinbar eine klare Alternative. Zizek arbeitet jedoch überzeugend heraus, daß Kant der Struktur der jouissance wesentlich näher kam als de Sade.

Der Genuß hat die Überschreitung zum Verbotenen selbst zu seiner Voraussetzung; die Übertretung eines Verbots selbst ist eine Lust. Und es gibt eine Verbindung des Kantschen kategorischen Imperativs mit dem absolut Bösen: "Man tue das Böse, aber man tue das nicht aus pathologischen Gründen, Lust etc., sondern man tue Böses aus Prinzip. Das war unakzeptabel für Kant. Aber genau damit hat Kant eine gewisse Dimension eröffnet, die sehr interessant ist. Es gibt eine Interpretation, die besagt, daß hier Kant schon, ohne die Möglichkeit des Totalitarismus im 20. Jahrhundert zu kennen, diese eröffnet hatte." Wie Zizek anhand einer Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Analyse der "Banalität des Bösen" und Daniel Goldhagens "Hitlers willige Vollstrekker" demonstriert, verkennen beide die Ökonomie der jouissance: "Die Bürokratisierung selbst war eine Quelle zusätzlicher jouissance."

Wer den eliminatorischen Antisemitismus als Begründung annehme, übersehe, wie Ideologie und Macht auf mikrophysikalischer Ebene gemeinsam funktionierten. Und Goldhagens Argumentation verkenne den Subjekt-Effekt, den die Tat der Vernichtung selbst für die Täter besaß. Das bedeute eine viel geringere Entlastung für die Täter als Goldhagens Erklärung, die eine zu große Nähe zur Kollektivschuld-These aufweise, denn: "Man ist insoweit verantwortlich, als man die Tat genießt, und es ist klar, daß der subtile (implizite) Zwang eine zusätzliche jouissance gewährte, weil man Teil eines größeren, transindividuellen Körpers war und 'in der Masse mitschwamm'."

Damit behauptet Zizek nicht weniger, als daß die willigen Vollstrecker ihre Taten unbewußt als einen ekstatischen Genuß erlebten, der selbst die Normen der Nazi-Gesellschaft durchbrach. Gerade weil die Ermordung der europäischen Juden als eine Art offenes Geheimnis durch die Öffentlichkeit Nazideutschlands waberte und weil Himmler seinen SS-Führern erzählte, daß die Ermordung der Juden ein "niemals zu schreibendes Ruhmesblatt der Geschichte" darstelle - gerade indem eine Überschreitung des Gesetzes suggeriert wurde, konnten die Täter ihre Aktionen genießen.

Folgt man den Ausführungen Zizeks, ist es in der Gegenwart um den Genuß wie um die Toleranz gegenüber dem Anderen nicht gut bestellt. Die multikulturelle Gesellschaft forme und beherrsche den Anderen als jemanden, der toleriert wird, und zwar indem sie die implizite oder explizite Drohung über ihn verhängt, daß er gefälligst anders zu bleiben, sich selbst als different zu verhalten habe, daß er seinerseits die Andersheit der Anderen respektiere und sich schließlich einem beziehungslosen differenten "Anerkennen des Anderen" unterwirft. Ist der Andere aber wirklich anders und damit nicht mehr das Objekt des Genusses, ist es mit der repressiven Toleranz schnell vorbei.

Der Befehl: Genieße!, der einem heute in den Medien und in der Alltagskultur immer penetranter entgegenschallt, kann dem Neurotiker, der seine Grenzüberschreitung genießt, noch den letzten Spaß verderben. Durch Viagra wird der Sex mechanisiert, doch Viagra selbst ist nur ein Symptom: "Was heute in unserer postödipalen 'permissiven' Gesellschaft unterminiert wird, ist die sexuelle jouissance selbst als der begehrte / verbotene Brennpunkt, um den sich unser Leben dreht."

Durch die neuen nach-ödipalen Formen der Subjektivität und Sexualität, behauptet Zizek, sei eine neue Form der "reflexiven Verdinglichung der Intimsphäre" entstanden. Narzißtische Selbst-Abkapselung und ein fragiles imaginäres Gleichgewicht der post-ödipalen Subjekte bedingten die neuen Formen der Dominanz, die gerade von dem Genuß-Gebot des Über-Ichs ausgehen. So wird beispielsweise bei Hackern, die als innovativ gelten und die von Software-Konzernen ihre Spielwiese eingerichtet bekommen, auf der sie anscheinend hemmungslos ihrem Hobby nachgehen können, auch noch die letzte Kreativität verbraucht. Ihren eigenen Erfahrungen können diese Leute nicht mehr trauen, sind sie doch schon durch ihren Job zum Glücklichsein verdammt.

"Wie geht es mir heute?" sei die Frage, die diese an den Anderen richteten, sie erhielten aber statt einer Antwort nur ein "Gut, und mir?" zurück. Diese Distanz zu sich selbst bezeichnet für Zizek "die Funktionsweise der postmodernen zynischen Ideologie". Sie gibt vor, reflexiv zu sein, den Anderen bzw. die Anerkennung der eigenen Subjektivität durch den Anderen konstitutiv einzubeziehen, sie praktiziert aber nahezu das Gegenteil: Pseudo-aufgeklärt, wird von den Individuen die Sexualität frei nach Kant als ein "Bereich vertraglich vereinbarter wechselseitiger Ausbeutung inszeniert", dies führt aber nur zu einer "reflexiven Verdinglichung der Intimsphäre".

Ist ein Genießen durch eine neue große Weigerung, diesem Befehl zum Genuß Folge zu leisten, möglich? Wie kann dieses Genuß-Gebot sabotiert werden? Darauf findet Zizek nur eine Antwort: "Weniger-Genießen!" Oder: Pervers werden. Gewinnt der Neurotiker seine Lust aus der Übertretung eines Gesetzes, so unterwirft sich der Perverse einem Gesetz - und genießt seine Unterwerfung unter einen Fetisch. Der Perverse begehrt das Gesetz selbst, er genießt es, herumkommandiert zu werden. Die eigene Entwürdigung als Genuß - die Entkörperlichung, das Schein-Handeln führt in der Mediengesellschaft direkt zu den digitalen Perversionen.

Was wird aus dem Nächsten, wenn man sie oder ihn auf ein Bildschirmphantom reduziert? Der Cyberspace, "die letzte Form des Fetischismus", ist wie geschaffen für den beziehungsgestörten Perversen. Sex im Cyberspace zeige "alles", "wirklichen Sex", produziere damit aber lediglich "Simulakren der Sexualität". In der virtuellen Realität lassen sich so das Imaginäre und das Reale immer weniger unterscheiden. Der Cyberspace funktioniert symbolisch, der User kann zwar "sein, was und wer er will; er wird jedoch von einem Signifikanten repräsentiert, der im Cyberspace als sein Platzhalter agiert" - Ödipus online.

Daß der Cyberspace daher als Experimentierraum für neue Formen der Subjektivität dienen kann, ein "Durchqueren der Phantasie" ermöglicht, wie Zizek am Ende seines Buches nahelegt, wo neue, herrschaftsfreie Formen des Geist-Körper-Verhältnisses ausprobiert werden können, kann gerade dann, wenn Zizek seine eigene Theorie ernst nimmt, durch nichts belegt werden.

Slavoj Zizek: Liebe deinen Nächsten? Nein, danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne. Volk & Welt, Berlin 1999, 286 S., DM 42