Agit-Pop im Vormärz

"Herwegh - Ein Heldenleben": Ulrich Enzensberger gedenkt eines Polit-Lyrikers, Vaterlandsverräters, Wirrkopfes und Slackers

"Reißt die Kreuze aus der Erden! Alle sollen Schwerter werden": Heute schmäht man den Verfasser dieser und vieler auffallend ähnlicher Zeilen, den politischen Lyriker Georg Herwegh, als Stümper, Wirrkopf und unfreiwilligen Politclown; man hat es sich angewöhnt, ihn als Lautesten und Lächerlichsten der Vormärzler zu betrachten, die die Revolution ausgerechnet im biedermeierlichen Deutschland herbeizuknitteln suchten. Günstigstenfalls gelten seine Verse noch als rhetorisch-appellatives Reimhandwerk, meist wird aber auch das streng deklamatorische Pathos seiner "Lyrik mit Ausrufezeichen" (H.G. Rötzer) ungünstig vermerkt.

Gar "toter als tot" erscheinen die Gedichte Herweghs inzwischen dem Biographen Ulrich Enzensberger, der in diesen Tagen Herweghs Heldenleben in der "Anderen Bibliothek" vorgelegt hat. Obschon er, über den "kleinen Kadaver" gebeugt, zugeben muß: "Kein Zweifel, das lebte mal." Ha! Na und ob! Und ob das mal lebte! Zu seiner großen Zeit nämlich, in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts, war Georg Herwegh ein echter Popstar.

Die Jahrzehnte nach Französischer Revolution und Napoleonischen Kriegen waren in deutschen Landen eine unheimlich öde, vermuffte Zeit gewesen. Politisch wurde restauriert, was das Zeug hielt, das Aufbegehren der rebellischen Jugend im Keim erstickt. Auch der sanfte Protest der Schriftsteller vom "Jungen Deutschland" hatte weiter zu nichts geführt. Jugendliche hatten in jenen Jahren nicht viel zu lachen, nirgends waren Entfaltungsmöglichkeiten jenseits von Arbeit und Gebet für sie vorgesehen.

Das Bedürfnis nach flammender Leidenschaft und politischer Revolte lag also regelrecht in der Luft, als Georg "The Pelvis" Herwegh die Bühne der damaligen Popkultur betrat. Der gebürtige Schwabe sah unwahrscheinlich gut aus, trug "Haupthaar und Bart, beide von glänzender Schwärze, so lang, wie sie eben wuchsen", wie sich ein Zeitgenosse erfreut erinnert, und hatte "die schönsten Männeraugen, die ich je gesehen". Überdies verzeichneten Herweghs Jugendjahre aufregende Momente von Devianz und Dissidenz: Als Heranwachsender ein begabter Veitstänzer, über den man sogar eine medizinische Dissertation verfaßte, wurde der junge Herwegh von der Uni wegen dauernden nächtlichen Radaus und einem Haufen Schulden verwiesen. Beim anschließenden Militärdienst beleidigte er Vorgesetzte und landete im Bau, bis er schließlich desertierte und in der Schweiz Exil nahm.

Von dort aus aber landete er mit seinen "Gedichten eines Lebendigen" 1841 einen richtigen Smash-Hit. Das erfrischende Debüt Herweghs verkaufte sich in unglaublichen Stückzahlen und hatte zig Auflagen (15 000 Exemplare sollen es bis 1848 gewesen sein). Der peitschende Rhythmus seiner Verse mit der eingängigen Botschaft (unbedingte Parteinahme für die Ausgebeuteten! Revolution sofort!) ließ speziell die jungen Mädchen in den Großstädten toben und kreischen. Die Fans organisierten sich, so Enzensberger, prompt in "Herwegh-Klubs", während die Dichterkollegen Dutzende von Lobliedern auf den Newcomer anstimmten.

Seine triumphale Tour durch die deutschen Länder 1842 sah deshalb auch zunächst nach dem Ereignis des Jahres aus: Es gab Fackelzüge, Bankette, pompöse Gesellschaften mit Oppositionellen. Bei so einem Ereignis lernte Herwegh seine spätere Frau Emma kennen, eine Tochter aus begütertem Hause. Sie hatte ihn zuvor mit Fan-Post bombardiert.

Leider nahte sich die Autorität in Gestalt des preußischen Königs, um Herwegh den Schneid abzukaufen. Bei einer Audienz, 1842, machte der Dichter eine eher unglückliche Figur und verfaßte im nachhinein einen rechtfertigenden, sowohl anmaßend als auch anbiedernd klingenden Brief an den Monarchen. Das Schreiben gelangte durch eine Indiskretion an die Presse - und ruinierte so binnen kürzester Zeit Herweghs Rebellen-Image. Da nützte es auch nichts, daß ihn die Preußen prompt wieder ausweisen ließen - Herwegh wurde zur Spottfigur.

Trotzdem - Herwegh hatte sich, auch durch das Geld, in das er eingeheiratet hatte, einen festen Platz im Salonleben zwischen Zürich, Paris und Nizza erobert. Er lernte Liszt, Feuerbach, Heine, Wagner und Bakunin kennen und arbeitete neben Marx und Engels für den in Paris erscheinenden Vorwärts. Seine dichterische Schaffenskraft ließ doch ganz erheblich nach. "Liederlichkeit als Maxime" diagnostizierte ein Bekannter bei ihm. Er wurde ein echter Slacker, der sich höchstens gelegentlich zu Exkursionen ins Freie aufraffte und Meerestiere künstlich zu befruchten versuchte, weil ihm die naturwissenschaftlichen Umwälzungen jener Zeit als das nächste große Ding erschienen.

Als ihn solcher Tand aber nach einiger Zeit nicht mehr befriedigte, das Geld auch immer knapper wurde und die Politik überall auf dem Kontinent das Gegenteil der in sie gesetzten Hoffnungen entbarg, als also, so Enzensberger, "die Stimmung im Wartesaal der Revolution auf den Tiefpunkt gesunken war", kam glücklicherweise das Jahr 1848 und damit die Gelegenheit, in den Lauf der Geschichte einzugreifen. Herwegh half in Frankreich mit, eine Truppe zu organisieren, die die badischen Aufständischen unterstützen sollte.

"Daß er darauf einging, daß er selbst von sich verlangte, ein Mann der Tat zu sein, bewies seinen Mangel an Selbsterkenntnis", kommentiert Enzensberger diesen Akt: "Zur politischen Rolle fehlten ihm sowohl praktisches Urteil wie Charakter und Willenskraft, also eigentlich alles." Jedenfalls fiel Herweghs in Paris aufgebrochene Legion mit inzwischen nur noch 650 Leuten zaghaft in Baden ein, hörte von der vernichtenden Niederlage der Aufständischen um Friedrich Hecker und wurde auf dem Rückzug ohne viel Gegenwehr geschlagen. Herwegh konnte zwar verkleidet über die schweizerische Grenze fliehen, aber das Gerücht, er sei feige unter den Röcken seiner Frau ausgebüxt, machte ihn abermals zur Zielscheibe des Pressespotts und so manchen Bänkellieds.

Nach dem Scheitern einer leidenschaftlichen Beziehung zur Frau eines russischen Radikalen widmete er sich noch intensiver seiner Unproduktivität. Als Alt-Star mischte er zwar in der Gesellschaft noch mit, schwadronierte auch von dem monumentalen Werk, das er demnächst anzufertigen gedächte, ein Konzeptalbum zwischen Dantes "Göttlicher Komödie" und dem "Weißen Album" der Beatles - aber daraus wurde nichts.

Erst als ihn der Paradiesvogel Ferdinand Lassalle rief, ein Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zu verfassen, kam er 1863 mit dem Super-Golden-Classic-Evergreen "Bet' und arbeit'" auf den Markt. Dessen unsterbliche Zeilen "Alle Räder stehen still / Wenn Dein starker Arm es will" kennt jeder. Still stand danach aber auch wieder seine Inspiration, zumal ihn nach dem Tod des Schwiegervaters unentwegt Geldsorgen drückten.

Als Journalist schrieb er weiterhin, hauptsächlich gegen die Bismarcksche Reichseinigung, oft auch noch tagespolitische Gedichte für allerlei linke Blättchen. Er trat aus dem Arbeiterverein aus, als ihm dessen Kurs zu kompromißlerisch wurde, zum Broterwerb übersetzte er außerdem haufenweise Shakespeare-Dramen. 1875 starb er, im Alter von 58 Jahren.

Ulrich Enzensberger hat eine Lebensgeschichte dieses Georg Herwegh geschrieben, die der anekdotischen Erzählung und der Impression den Vorzug vor einer Analyse von Schriften und Ideenwelt gibt. Da Enzensberger gar nicht erst versucht, die Faszination, die Herwegh als Typ ausübt, mit dem Abscheu vor dessen Ästhetik in eins

zu bringen, ist sein Porträt im besten Sinne des Wortes ambivalent geworden.

Daß sich Herwegh vornehmlich als politischer Schriftsteller begriff, daß er die Figur des "engagierten Dichters", wie Enzensberger meint, vielleicht sogar erfunden hat, macht es freilich auch sehr wahrscheinlich, daß in diesem biographischen Konstrukt einiges vom widersprüchlichen Geist der Zeit und den politischen Bewegungen dahinter aufscheint. Deren Kräfte grotesk fehleingeschätzt und mit untauglichen Mitteln - nämlich plumper Agitprop-Ästhetik - für sie Partei ergriffen bzw. gegen sie aufbegehrt zu haben, hält Enzensberger Herwegh und seinen Kumpanen vor.

Wo Zwischentöne nämlich nur Krampf im Klassenkampf sind, wo Tendenzdichtung moralische und keine ästhetischen Ansprüche stellt, weil sie auf unmittelbare Wirkung aus ist, da wird der Dichter natürlich auch lediglich an seinen politischen Erfolgen gemessen. Genau die konnte Herwegh (wie die meisten seiner Nachfolger im Genre der politischen Dichtung) nicht vorweisen. So bemerkte der Dichter Dingelstedt seinerzeit ganz richtig: "Herwegh hat eine Zukunft, wenn Deutschland eine Revolution erlebt, sonst nicht."

Daß die Kategorie des individuellen Charakters bei einem solchen Vorgehen etwas überstrapaziert wird, mag man bedauern. Es verwundert jedoch nicht, weil politische Dichtung leicht in den Verdacht einer Ersatzhandlung für die politische Tat gerät und der Dichter in den Ruch, von seinen Adressaten den Mut und die Konsequenz zu erwarten, die er selbst nicht aufbringt.

Enzensberger bemüht sich zu zeigen, wie persönliche Marotten und Eitelkeiten, seltsame Charakterzüge und Wahrnehmungsverlust dem politisch-propagandistischen Geschehen, das da im Namen der Dichtkunst stattfand, vorgelagert waren oder es sogar überschrieben: "Herwegh war ein Mann der großen Geste. War sie einmal getan, verfiel er in Untätigkeit und wartete auf ein Wunder. Selten tat er etwas aus freiem, innerem Antrieb und handelte meist nur, wenn er zu etwas gezwungen wurde. Geistesgegenwart war nicht seine Stärke. War der entscheidende Moment vorüber, dann arbeitete seine Phantasie die Möglichkeiten aus, die nicht mehr bestanden, dann wußte er sehr gut, was er hätte tun sollen. Aber diese Grübeleien waren fruchtlos. Das nächste Ereignis traf ihn wieder völlig unvorbereitet." Wer sich da nicht angesprochen fühlt, werfe doch den ersten Stein. Auf die Paläste.

Ulrich Enzensberger: Herwegh. Ein Heldenleben. Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 1999 (Die Andere Bibliothek Band 173), 399 Seiten, DM 49,50