Der Kampf um die Standards

Bei MP3 geht es um mehr als nur Musik - es ist ein Feldversuch zur zukünftigen Verteilung von Informationen.

Das Ende der Kultur-Industrie, wie wir sie kennen, heißt MP3. So läuft das Gerücht, und obwohl noch unklar ist, für wen am Ende was herausspringt, werden die Unterhaltungselektronik und die ihr angegliederten Inhalte schon bald anders aussehen. Das Kürzel für eine Algorithmen-Sammlung aus dem Fraunhofer-Institut in Erlangen steht für eine Auseinandersetzung, die derzeit noch auf dem Musik-Markt geführt wird, aber ihre Bedeutung geht weit darüber hinaus: Hier entstehen stellvertretend auch die Blaupausen zukünftiger Vertriebs- und Produktionsstrukturen der Filmindustrie und der gesamten Printbranche.

Da die Übertragungsraten für bewegte Bilder noch nicht ausreichen und die Bildschirm-Technik eine befriedigende Lektüre am Bildschirm noch verhindert, wird mit MP3 anhand von Sound gerade im freien Feldversuch ausgelotet, wie ortsunabhängige und frei verfügbare Informationen die Positionen im Kulturbetrieb gündlich über den Haufen schmeißen könnten. Und das für alle Beteiligten.

Nach MP3 werden sich Konsumenten, Produzenten, Vertreiber und Marketing-Fuzzis selbst nicht mehr im Spiegel erkennen, wenn es diese Rollenverteilung dann überhaupt noch gibt. Kein Wunder also, daß sich jeder Musik-Manager derzeit ein extra Magengeschwür zulegt und sich auch Konsumenten aus der Altersgruppe "über 25" in ihrer Haut nicht mehr wohl fühlen. Denn die wenigsten verstehen, was da vor sich geht, aber daß ihre Erfahrungen und Gewohnheiten gerade im Begriff sind, wertlos zu werden, das merken die meisten.

MP3 ist das Kürzel für MPEG 1 Layer 3 und bezeichnet ein Daten-Kompressionsverfahren, dessen Entwicklung 1987 am Fraunhofer Institut begann. Mit dieser Technik können Soundfiles inzwischen auf ein Zwölftel ihrer Größe reduziert werden. Dies gelingt vor allem durch eine clevere Anpassung an das Verfahrens des menschlichen Gehörs, also der unterschiedlichen Behandlung der Frequenzbereiche, und das Filtern aller Daten, die das Ohr nicht wahrnehmen kann. Das Ergebnis erreicht annähernd CD-Qualität, reicht also für den täglichen Musik-Konsum auf jeden Fall. Für die klassischen Verbreitungs-Wege von Musik ist diese Technik relativ wertlos, denn einerseits sind Datenträger wie Kassetten billig, und andererseits wird ohnehin meist nur für Freunde kopiert.

Breitenwirkung entfaltet MP3, seitdem genügend Menschen kostengünstigen und schnellen Internetzugang haben. Aber diese Entwicklung ist noch in vollem Gange, und besonders bei der Preisgestaltung sind europäische noch stark gegenüber amerikanischen Konsumenten benachteiligt, weil die lokalen Telefongebühren hier noch wesentlich höher sind als dort. Musik ist jetzt also verfügbar, indem sie irgend jemand irgendwo ins Netz stellt: Der individuellen Weitergabe sind theoretisch keine sozialen oder geographischen Grenzen mehr gesetzt.

Da in den nächsten Jahren aber die Übertragungsraten drastisch steigen und die Preise heftig sinken werden, ist MP3 nur ein Vorgeschmack auf die kommende Zustände, wenn Musik in voller CD-Qualität und in einem Bruchteil ihrer eigenen Länge übertragen werden wird und eine Glasfaserleitung später ähnliches mit Filmen in Kino-Qualität leisten kann. Und genau diese Aussichten erklären die hilflose und aggressive Reaktion der Musikindustrie, deren Umsatzeinbußen der letzten Jahre eher auf die eigene unverschämte Preispolitik zurückzuführen sind als auf die Musik aus dem Netz.

Bisher funktionieren die illegalen MP3-Dateien zwar eher als Kaufanreiz, der das Vorhören der CDs im Geschäft ersetzt, trotzdem glaubt die Plattenindustrie, hier würden Marktanteile verloren gehen. Aber auch die legale MP3-Musik im Netz schafft für die Konzerne zumindest Verunsicherung, denn jede Nachwuchsband oder jeder Schlafzimmer-Produzent hat die Möglichkeit, seinen Sound ins Netz zu stellen und so einem weltweiten Publikum zu präsentieren, ohne auf die Apparate der Plattenfirmen angewiesen zu sein. Auch diese Möglichkeit dürfte in dem Moment, in dem die Bandbreite eine Echtzeit-Übertragung zuläßt, massenhaft genutzt werden.

Doch, daß sich auch mit Standards und Informationen Geld verdienen läßt, dämmert den Entscheidungsträgern in der Musikindustrie, vor allem seit dem Aktienboom der jungen Netz-Unternehmen, die nach einem guten Tag an der Wall-Street mehr wert sind als ein mittlerer Automobil-Hersteller - und das, ohne bisher einen Pfennig verdient zu haben oder besonders wertvolle Produktionsmittel zu besitzen. Darauf reagiert die Musikindustrie wie der Rest des alten Kapitals - mit einer Mischung aus Aggression und Umarmung.

Das Aufkommen der ersten MP3-Player, also von Abspielgeräten, die speziell für MP3-Files konstruiert sind, begrüßte die RIAA (Recording Industry Association of America) mit Prozessen gegen alles, was sich auf dem Sektor bewegte, angefangen von Diamond Inc., dem Hersteller des populären MP3-Players RIO, bis zu jedem, der MP3-Files ins Netz gestellt hatte und dessen man habhaft werden konnte. Trotzdem ist die Auseinandersetzung von einem Zick-Zack-Kurs geprägt: Diamond und die RIAA haben sich inzwischen gütlich auf die Einstellung der neun noch anhängigen Prozesse geeinigt, nachdem Diamond den ersten gewonnen hatte. Etwa zeitgleich kaufte sich mit MTV ein Vertreter der Industrie bei Diamond in unbekannter Höhe ein.

Diese Aktion ist typisch für das letzte halbe Jahr, in dem sich die Musikbranche auf möglichst vielen Ebenen beim Feind finanziell beteiligte - also auch am Hort des Bösen schlechthin, nämlich den Internet-Suchmaschinen, die sich auf MP3-Files spezialisiert haben und so das illegale Kopieren erst richtig in Schwung bringen (Bertelsmann etwa ist auf diese Weise auf jeder Seite der Front dabei). Diese Einkäufe sind aber nicht als Einstellung des Konflikts zu verstehen, sondern eher als Versicherungen für jeden möglichen Ausgang. Egal, welche Seite gewinnt, die Firmen wollen dabei sein.

Die Opfer sind vor allem Zivilisten, denn Verluste der Industrie bestehen höchstens aus steuergünstigen Abschreibungen. Erst letzten Monat wurde auf Betreiben des schwedischen Musik-Produzenten-Verbandes ein 17jähriger wegen der Verbreitung illegaler MP3-Files angeklagt, und nach gültigen Gesetzen sind ihm mehrere Jahre Jugendknast sicher. Dabei hatte der Delinquent mit der Verbreitung der Musik nicht einmal Geld verdient, sondern die Files einfach nur zur Verfügung gestellt, ohne Geld zu verlangen.

Mit MP3 hat eine Auseinandersetzung begonnen, die so schnell kein Ende finden wird. Vorläufiger Schlußpunkt wäre ein Standard für die digitale Distribution von Musik, aber durch den Innovationsdruck des Netzes hält sich kein Standard lange genug, um damit nach klassischen Mustern Geld zu verdienen. Das ist ein Drama für eine Branche, die seit der Einführung der Vinyl-Single immer eine Dekade Zeit hatte, die Konsumenten mit Abspielgeräten und Datenträgern auszunehmen, und die gewöhnt war, mit jeder neuen Technologie deutlich mehr Geld zu verdienen als mit der vorherigen. So ist der Versuch, Standards zu definieren derzeit die einzige Möglichkeit, überhaupt noch im Geschäft zu bleiben. Dementsprechend viel Kapital wird in diese Aktivität gepumpt.

Ob eine Technologie dann auch als Standard akzeptiert werden wird, ist dennoch unsicher. Denn die Initiative liegt weniger auf seiten der Industrie als bei Hackern und Bastlern - oft bleibt den großen Firmen nichts anderes übrig als nachzuziehen. So war es bei DVD, einem Standard für digitale Video-Datenträger, wo jeder Kontinent einen eigenen Standard bekommen sollte und Panasonic trotzdem zu guter Letzt nichts übrig blieb, als Geräte zu bauen, die mit allen Standards funktionieren. Ein ähnliches Schicksal dürfte SDMI (Secure Digital Music Initiative) drohen, einer technischen Spezifikation, die allen möglichen Musik-Kompressionsverfahren übergestülpt werden kann und die einen variablen Kopierschutz bietet.

Dies bedeutet, daß die Zahl der möglichen Kopien frei festgelegt werden kann oder der Konsument vor jedem Abspielen den File online freischalten muß, eine Art Pay-Per-Listening. Doch obwohl SDMI von sämtlichen Global Playern der Unterhaltungs- und Informations-Branche - von Disney bis Microsoft - unterstützt wird, dürften die Anstrengungen, der Verbreitung von Informationen digitale Ketten anzulegen, bis auf weiteres noch am Internet scheitern.

International Federation of Phonographic Industries: www.ifpi.org; Files, Diskussionen: www.mp3.com; SDMI: www.sdmi.org; täglich frische News: www.futurezone.orf.at