Wissenschaftliche Wesensäußerung

Die "Aktion Ritterbusch" faßte während des Zweiten Weltkriegs wesentliche Teile der deutschen Wissenschaft zusammen

"Neben dem besten Soldaten der Welt muß der beste Wissenschaftler der Welt stehen." Mit dieser Parole präsentierten sich 1941 zwei wissenschaftspolitische Großprojekte mit einer gemeinsamen Ausstellung der Berliner Öffentlichkeit. Zum einen war es die Arbeitsgemeinschaft für den Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften, die im Jahr zuvor, pünktlich zum Beginn des Kriegs im Westen, vom Reichsministerium für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung eingerichtet worden war. Ihr zur Seite stand die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, die planend und beratend der nationalsozialistischen Raum- und Bevölkerungspolitik diente.

Beide Projekte hatten den selben Leiter und waren - für den damaligen Wissenschaftsbetrieb richtungweisend - interdisziplinär und universitätsübergreifend organisiert. Sie teilten auch ihr Selbstverständnis als "Deutsche Wissenschaft im Kampf um Reich und Lebensraum", so der Ausstellungstitel, und waren je auf ihre Weise mit der "Neuordnung Europas" befaßt.

Nun hat der Freiburger Romanist Frank-Rutger Hausmann erstmals eine Monographie über den "Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften" vorgelegt. Darin rekonstruiert er eine der größten Wissenschaftsorganisationen im Nationalsozialismus: koordiniert vom Kieler Rektor und späteren Ministerialbeamten Paul Ritterbusch, umfaßte sie zunächst zwölf Disziplinen (Altertumswissenschaft, Anglistik, Geographie, Germanistik, Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte, Orientalistik, Philosophie, Romanistik, Staatsrecht, Völkerrecht und Zivilrecht), einige weitere kamen bis Kriegsende hinzu. In "Fachgruppen" zusammengefaßt, wirkten nach Hausmanns Schätzung mindestens 500 Akademiker mit, darunter nahezu die gesamte professorale Elite und ein Großteil des Nachwuchses.

Dabei übernahmen die repräsentativen Tagungen der Fachgruppen zunehmend die Funktion von Germanisten-, Historiker- und anderen "Tagen". Seinen Teilnehmern sicherte der Kriegseinsatz Ressourcen für Veröffentlichungen, die Freistellung vom Kriegsdienst und, sofern nötig, die Möglichkeit systemkonformer Bewährung. Die personelle Basis war infolgedessen heterogen: Einige exponierte Nazis waren nicht eingebunden, einige Nazigegner durchaus.

Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stand die Herausgabe repräsentativer Sammelbände, die durchweg als Standardwerke konzipiert waren. Sie sollten die ungebrochene Leistungsfähigkeit und intellektuelle Überlegenheit der deutschen Geisteswissenschaften in Europa dokumentieren. Insgesamt erschienen 67 Bände, was nur einen Bruchteil der, mehrere Hundert Titel umfassenden, stetig anwachsenden Gesamtplanung ausmachte. Die Dimension und die Langfristigkeit dieser Planungen wiesen über die Kriegsdauer hinaus: Die Neuformierung der Geisteswissenschaften im Medium des Krieges besaß Modellcharakter für die Wissenschaftsorganisation eines nationalsozialistischen Nachkriegsstaates.

Ritterbusch wies den Fachgruppen die Funktion zu, eine "neue geistige Ordnung Europas" gemäß den deutschen Kriegszielen wissenschaftlich zu legitimieren. Damit verbunden war der Versuch, die Geisteswissenschaften aus dem internationalen Diskurs herauszulösen und als "Wesensäußerungen" des deutschen Volkes zu definieren. Entsprechend wurden sie auf Grundkategorien wie Rasse und Raum, Volk und Reich verpflichtet. Für die Durchsetzung eines völkisch hierarchisierten Europamodells nutzbar geworden, waren sie, um einen zeitgenössischen Terminus zu zitieren, "politische Wissenschaften".

Über die Schlüsselrolle, die eine völkisch gewendeten Geographie im geisteswissenschaftlichen "Gemeinschaftswerk" einnahm, erfolgte der Brückenschlag zur praktischen Raumplanung. Unter starker Einbeziehung völkisch-geographischer Kategorien sollten etwa die Nationalphilologien zu landeskundlichen "England-" oder "Frankreichwissenschaften" transformiert werden. Sie sollten durch ein Synthese geographischer, rassenbiologischer, sprachlicher, kultureller, wirtschaftlicher und politischer Faktoren das "Wesen" des jeweiligen Landes verbindlich definieren und Argumente für die deutsche Hegemonie ableiten. Der Altertumswissenschaft fiel die Aufgabe zu, antike Vorbilder eines modernen Verständnisses des "Raumes" und der "Ordnung" bereitzustellen, während die Kunsthistoriker den Einfluß deutscher Künstler in anderen europäischen Ländern in eine geographisch darstellbare "Ausstrahlung" des deutschen "Volkes" verwandelten.

Die enge Verknüpfung des Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften mit der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung war also ein Kernbestandteil von Ritterbuschs Wissenschaftsmodell; sie könnte - was Hausmann nicht tut - als der spezifische Beitrag der geisteswissenschaftlichen Elite zum Vernichtungskrieg gedeutet werden.

Es gelingt Hausmann, die den Einzeldisziplinen zugewiesenen Methoden, Themen und Erkenntnisziele, ihre kollektive und individuelle Umsetzung und ihre öffentliche Darstellung zu rekonstruieren, soweit es die fragmentarische Quellenlage zuläßt. Dabei identifiziert er 379 der beteiligten Wissenschaftler. Die Auswertung von Nachlässen ermöglicht es, den Grad individueller Verstrickung während des Kriegseinsatzes und die Wirkungen auf Karrieren und Forschungsinhalte der Nachkriegszeit zu untersuchen.

Dabei zeigt sich, daß die Mitwirkenden in der Regel hinreichend über den Zweck des "Kriegseinsatzes" informiert waren und darüber hinaus Kenntnis von den NS-Verbrechen besaßen. Die Bereitschaft zur Mitarbeit war durchweg hoch. Verweigerungen, die trotz eines gewissen Drucks durchaus möglich gewesen wären, blieben nahezu aus. Die Tagungsprotokolle sprechen von gelöster, zumal in den ersten Kriegsjahren euphorischer Stimmung. Dies traf auch auf die Disziplinen zu, die, wie Hausmann am Beispiel der Romanistik zeigt, dem "Kriegseinsatz" reservierter als andere gegenüberstanden.

In der Nachkriegszeit blieb die Mitarbeit, sofern sie nicht verschwiegen wurde, als Qualifikationsnachweis tauglich, was nicht selten von der Schülergeneration im Genre der akademischen Festschrift fortgeschrieben wurde. In solchen Fällen wurde der "Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften" zum sachlichen Forschen fernab jedes Verbrechens - das Modell einer nazistischen Nachkriegswissenschaft geriet zum Persilschein.

Noch dem Interviewer Hausmann gegenüber, dessen Kenntnis der schriftlichen Quellen anzunehmen war, bestritten die noch lebenden Mitarbeiter des "Kriegseinsatzes", dessen Ziele gekannt und ihnen gemäß gehandelt zu haben. So verwundert es kaum, daß auch ihre inhaltlichen Beiträge nach 1945 allenfalls den Zeitumständen angepaßt, nicht aber selbstkritisch reflektiert wurden. Neuauflagen von Veröffentlichungen des "Kriegseinsatzes" sind bis Ende der sechziger Jahre nachweisbar. Selbst einige der vor 1945 erstellten, aber nicht mehr erschienenen Bücher gingen in den fünfziger Jahren in Druck.

Den stärksten Einfluß auf die heutige Wissenschaft allerdings vermutet Hausmann in seiner wissenschaftsorganisatorischen Innovation, nämlich der Vernetzung instrumenteller Vernunft über Fächer und Hochschulgrenzen hinweg. So dürfte Hausmanns Studie - und das ist ihr Verdienst - die Kritik zahlreicher Karrieren, Forschungsinhalte und Wissenschaftsmodelle vor und nach 1945 ermöglichen. Freilich: Hausmanns eigene Kritik weist nicht über das Benennen von Kontinuitäten und die individuelle Schuldfrage hinaus.

Haben wir es mit einem Standardwerk über nationalsozialistische Wissenschaftspolitik zu tun? Gelingt es insbesondere, die Funktion der Geisteswissenschaften im Vernichtungskrieg zu erhellen? Die arbeitsteilige Verflechtung des Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften mit der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung hätte die Möglichkeit eröffnet, das Ineinandergreifen von Wissenschaft und Politik, Theorie und Anwendung, Legitimation und Exekution zu analysieren. Hausmann tut dies nicht. Das Verhältnis des Kriegseinsatz zu anderen Wissenschaftsorganisationen, Behörden und NS-Stellen scheint nicht wirklich untersucht worden zu sein.

Hinzu kommt, daß vor allem die frühen, kaum aber die letzten Phasen des Kriegseinsatzes beleuchtet wurden, obwohl Hausmann eine zunehmende Einbindung in die nationalsozialistische Ostpolitik und einen wachsenden Einfluß der SS in den letzten Kriegsjahren erwähnt. Daß die SS nach dem Freitod Paul Ritterbuschs vermutlich ganz die Leitung des Kriegseinsatzes an sich zog, erwähnt Hausmann nur am Rande - bezeichnenderweise im Kapitel über die zeitgenössische Rezeption des Projekts.

Das Panoptikum geisteswissenschaftlicher Mittäterschaft, deren Ausmaß und Wirkung die Studie eher erahnen als erkennen läßt, sollte also im Wissen dieser Unzulänglichkeiten betrachtet werden.

Frank-Rutger Hausmann: "Deutsche Geisteswissenschaft" im Zweiten Weltkrieg. "Die Aktion Ritterbusch (1940-1945)". Dresden University Press, Dresden 1998, 414 Seiten, DM 78