Wo ist Osten?

Das Sommertheater-Festival in Hamburg widmete sich Osteuropa

Wir treffen uns auf der Piazza, sagt einer im Vorübergehen. Dabei hat das Gelände der Kampnagelfabrik nicht wirklich etwas Mediterranes. Immerhin ist Sommer, warm, blauer Himmel. Hier ist immer was los. Das Festival soll eben auch Ort des Austauschs sein. Das scheint zu funktionieren. SchauspielerInnen, RegisseurInnen und andere Theatermenschen aus elf Ländern geben sich beim Sommertheater-Festival ein Stelldichein.

"Wo ist Osten?" schreit's vom Festivalplakat. Zwei Hände sind abgebildet, die einen Kompaß umschließen. Doch die Nadel scheint keine eindeutige Richtung vorzugeben. Wo also ist Osten, flüstert's von den Gesprächen herüber. Darin scheinen viele Fragen auf. Dankenswerterweise unternimmt das Programm nicht den Versuch erschöpfender Beantwortung.

Die zwei wichtigsten lauten: Welche gesellschaftliche Funktion nimmt das Theater im ersten postsozialistischen Jahrzehnt ein, welche ästhetischen und strukturellen Entwicklungen sind zu erkennen? Und in welchem Verhältnis stehen diese zum gegenwärtigen westeuropäischen Theater? Dieter Jaenicke, der künstlerische Leiter der Veranstaltung, ist skeptisch. Er sehe kaum Arbeiten, die das hiesige Theater stimulieren könnten. Die Erwartungshaltung muß also reformuliert werden. Schließlich habe - bei allen, kaum übersehbaren Unterschiedlichkeiten - das Theater in den Ländern des ehemaligen Ostblocks eine sehr eigene Geschichte.

Der Austausch, so hört man immer wieder, ist alles andere als einfach. Was sicher am wenigsten am Unwillen der unmittelbar Beteiligten liegt. Grob gesagt, stellt sich die Situation folgendermaßen dar: Die rasante Entwicklung in Westeuropa und Nordamerika in den letzten zwanzig Jahren, hin zu einem postdramatischen Paradigma, hat, trotz der geographischen und theatergeschichtlichen Nähe, nur schwer den Weg hinter den diesbezüglich äußerst wirksamen "Eisernen Vorhang" gefunden. Und, sagt Jaenicke, weder das Theaters als "current affairs programme" (Krieg) noch die psychologische Konstellation eines Tschechowschen Sonntagnachmittags seien allein selig machende Modelle.

Überhaupt Tschechow. Der geistert durch so einige Aufführungen. Am prägnantesten kommentiert das "Na Zemlje" ("Auf Erde"), die jüngste Arbeit der Berliner Choreographin Sasha Waltz. Auf einer mit Heu, Erde und brackigem Wasser bedeckten Bühne inszeniert sie ein ungemein dichtes Netz von Szenen, deren Referenzpunkt ebenso das heutige Rußland ist, weitab der Metropolen, wie die ost-westliche Praxis, Tschechow zu inszenieren. Die zwölf fabelhaften TänzerInnen, je zur Hälfte aus Deutschland und Rußland stammend, meistern den ständigen Wechsel von Surrealem und trostlos Konkretem.

Waltz verzichtet in ihrer Choreographie, anders als in vorangegangenen Produktionen, weitgehend auf den Einsatz von den - derzeit so inflationär wie gedankenlos benutzten - Neuen Medien. Irgendwann gegen Ende wird "Final Countdown" von Europe eingespielt. Das tut weh, ist aber in mehrfacher Weise programmatisch zu lesen: Als Abgesang auf das Sehnsuchtsmotiv zum Beispiel, auf das Tschechow oft reduziert wird. Oder als Einfall von Populärkultur in ihrer dümmsten Form. Das war's dann aber auch. Spärlich wie sinnig wird mit dem Licht gearbeitet. Musik kommt gar nicht vor, Text kaum.

Zum anderen speisen sich die Szenen aus Eindrücken, die die Choreographin auf Reisen gesammelt hat. Ohne in die gefühlige Authentizitätsfalle zu tappen, abstrahiert Waltz diese zu Bildern, die leicht verstehbar sind. Und, man vermutet es, unglaublich real. Ohne je altmodische Mimesis zu versuchen. Spitze! Wenn dann noch ohne Lautsprecherunterstützung der wechselnde Beat der Produktion direkt aus den Stimmen der Agierenden, aus den Bewegungen ihrer Körper entsteht, darf man schon mal mit offenem Mund dasitzen.

Wo ist hier? Dasjenige osteuropäische Theater, das abseits vom staatlichen Betrieb stattfand, besetzte bis 1989/90 eine Nische, die Macher und Zuschauer zunächst gesellschaftspolitisch definierten. Diese "erwies sich als recht bequem", schreibt der Moskauer Kritiker Anatolij Golubowskij rückblickend, "konnte man doch den Zuschauer schockieren und seine Aufmerksamkeit fesseln, indem man lediglich aktuelle Informationen instrumentalisierte und keinen großen Wert auf künstlerisch-ästhetische Innovationen oder schauspielerisch-inszenatorische Raffinesse legen mußte."

Bis in die achtziger Jahre wurde die osteuropäische Freie Szene im Westen intensiv beäugt. Doch wurde dabei oftmals die genannte Schieflage wiederholt. Mit großem Dissidenz- und Subversionsbonus ausgestattet, wurde das Betrachten zum kulturellen Mehrwert. Dies verhinderte, daß sich ein wirklicher Einblick ergab. Der Mehrwert ließ sich kaum über 1989/90 hinweg retten, so daß heute, in Unwissenheit, vieles vom Publikum, vor allem aber von der Kritik als altmodisch, kitschig oder ritualistisch etikettiert wird. Was einem beim schnellen Urteilen entgeht, ist, wie intensiv sich Produktionen aus Slowenien, Ungarn, Rußland oder Bulgarien gerade mit diesen Themen auseinandersetzen. Was natürlich nicht bedeutet, daß alles gelingt. Doch wo gibt's das schon.

Wie immer hilft genaues Hinsehen. Mit Sfumato und der Lilia Abadjieva Company (beide Bulgarien) sowie En-Knap (Slowenien) waren drei Ensembles vertreten, deren Arbeiten stark geprägt sind von der intensiven Auseinandersetzung mit den Zeichen der unterschiedlichen politischen und religiösen Vergangenheiten. Der Begriff Sfumato bezieht sich auf eine von Leonardo da Vinci entwickelte Maltechnik: den Versuch, das Unsichtbare sichtbar zu machen.

Wenn sie sich auch auf Peter Brooks programmatische Schrift "The Empty Space" von 1968 bezieht, ist das Sichtbarmachen in "Apokryph" vor allem im übertragenen Sinne gemeint. Auf der Grundlage frühmittelalterlicher häretischer Texte wird Archaik nicht zelebriert, sondern zeichenhaft in den leeren Raum gestellt. Die mitunter sehr komischen Alternativerzählungen zum biblischen Entstehungsmythos verweisen auf den traditionellen Einfluß der christlichen Orthodoxie in Südosteuropa. Der Glaube strukturiert eben auch die gegenwärtige Gesellschaft, ihr Verhältnis zu Sexualität und Familie, ihre Machtstrukturen und Abhängigkeiten. Auf der Bühne entsteht eine Spannung zwischen der vordergründig düsteren Innerlichkeit und den Texten, die Adam und Eva, also die Schöpfung, konsequent ironisieren.

In einer Zeit, die, wie schon Hamlet wußte, aus den Fugen ist, haben es die großen Erzählungen schwer. Ob Christentum oder Kommunismus, den kleinen alternativen Erzählungen wohnt eine Kritik inne. Und damit Sprengkraft. Doch ist es schwer, sie subversiv einzusetzen. Immerhin herrscht an der Kritik am "siegreichen Kapitalismus" kein Mangel. Nur kommt die - auch darum hat man sich von der allzu geraden Subversionslogik linker Gegenkultur verabschieden müssen - nicht so richtig zum Zug. Dies ist nur eine der zahlreichen Verbindungslinien, die zwischen den unterschiedlichen Theaterformen zu ziehen ist. Westliche Produktionen von LaLaLa Human Steps aus Kanada, DV8 Physical Theatre aus England oder babylon aus Hamburg sind durchaus so zu lesen.

Das Hamlet-Projekt der Choreographin Lilia Abadjieva schließlich nimmt - darin sehr "westlich" - noch einmal die Postdrama-Thematik auf. Der Kunstgriff Abadjievas ist die scheinbare Naivität, mit der sie sich dem Stoff nähert. Formal ist das eine echte Hamlet-Maschine, die grell und grotesk den Text verhackstückt, bis schließlich alle bekannten Szenen durcheinanderpurzeln und stimmlos wie ausladend nur noch Zitat neben Zitat neben Zitat steht. Die Aktualisierung des Materials steht lediglich als bewußt nicht ausgearbeitete Möglichkeit im Raum, etwa wenn der Hamlet-Darsteller sagt: "Es sieht nicht gut aus; es wird nicht gut."

Am Ende bleiben bleibt vieles widersprüchlich und uneindeutig - ein Versuch. Auch unser Blick wird nicht ausgespart. Dabei stehen Spaß und Ernst ununterscheidbar eng nebeneinander. Was bleibt, ist der Titel des ausgezeichneten Programmhefts: Disorientation - Eastern Europe. Wo ist Osten? Genaues weiß man nicht.