An Nolte vorbei

Dan Diner deutet das Säkulum als Zeitalter der Weltbürgerkriege. "Dieses Jahrhundert verstehen" ist zugleich ein erfreuliches und ärgerliches Buch.

Schon seit längerem setzt sich Dan Diner, Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig und Historiker in Tel Aviv, mit einem neuen politischen Zugang zur Zeitgeschichte auseinander, indem er sich auf machtpolitische Interessen, geopolitische Konstellationen und auf politische Ideologien konzentriert. In "Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung" kommt er so zu der nicht sonderlich originellen These, dass die aus einer spezifischen Konstellation von "Mächtekonflikten" entstandenen "Weltbürgerkriege" das Signum des 20. Jahrhunderts seien. Wie Diner zu dieser Diagnose kommt, verdient ein genaueres Hinsehen.

Mit seiner Analyse des Ersten Weltkriegs und dessen Voraussetzungen wählt Diner denselben Ausgangspunkt wie Eric Hobsbawm in "The Age of Extremes", verändert aber die Blickrichtung: Diner versucht, das europäische Geschehen von der Peripherie aus in den Blick zu nehmen. Gleichsam vom Osten her möchte er die Geschichte Europas entschlüsseln, von der Treppe Odessas aus richtet er den Blick nach Süden und nach Westen. Von dort aus lassen sich die Konflikte im Baltikum, die Auseinandersetzungen um die Kontrolle des Schwarzen Meeres und des östlichen Mittelmeeres - generell die aus dem späten 18. und 19. Jahrhundert stammenden Probleme wie die Teilungen Polens, der Niedergang des Osmanischen Reichs, die russische Expansion und die französisch-englische Intervention im Krim-Krieg - verstehen: als Schlüssel für die Konflikte, die das 20. Jahrhundert bestimmt haben.

Im "langen 19. Jahrhundert" schlugen die Bemühungen Englands und Frankreichs fehl, gegen das erstarkende Russland wie gegen die Türkei mit Hilfe des neuen griechischen Staates durch den Krim-Krieg und den kleinasiatischen Krieg die Oberherrschaft über die Meerengen zu erlangen. Resultat dieser fehlgeschlagenen Politik war die Vertreibung der seit Jahrhunderten in Kleinasien lebenden Griechen. Umgekehrt wurden die im makedonischen Bereich lebenden Muslime in das zerfallende ottomanische Reich vertrieben, das sich nicht zuletzt durch diese Ethnifizierung und den diese begleitenden Nationalismus längerfristig in die moderne Türkei verwandelte. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gibt es, so Diner, in Ost- und Südosteuropa bzw. Kleinasien den kontinuierlichen Versuch der neu entstehenden und nicht gefestigten Nationalstaaten, Minderheiten zu ethnifizieren und zu vertreiben.

Von hier aus erscheint ihm das kurze Jahrhundert seit 1914 bzw. 1917 als ein "Kampf der Werte und Weltanschauungen, universell angelegt und global ausgreifend. "Zweierlei Weltbürgerkrieg" wird diagnostiziert: zwischen einem westlichen und einem östlichen Universalismus und gleichzeitig zwischen einem "Universalismus der Menschen- und Bürgerrechte" einerseits und einer "buchstäblichen Gleichheit" andererseits. Diner stellt die These auf, dass der Zweite Weltkrieg nicht ohne den Ersten, und dieser nicht ohne den Amerikanischen Bürgerkrieg zu verstehen sei. Der sei nämlich der erste moderne Massenkrieg gewesen, in dem die gesamte Bevölkerung und die Ökonomie mobilisiert worden sei, in dem Kriegsführung und Wirtschaftsleistung verschmolzen, in dem das Maschinengewehr den Krieg zu einem Massenkrieg und zu einem Vernichtungskrieg machte.

Je weiter der Blick Diners nach Osten schweift, um so mehr entdeckt er, dass das Prinzip der Volkssouveränität zu Nationalitäten-Fragen umgedeutet wird, dass anstatt von Klasse von Nationalitäten und Ethnien die Rede ist, dass Klassen- und Nationalitäten-Konflikte verschmelzen. Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts besteht so im Zerfall des ottomanischen und österreichisch-ungarischen Reiches, dem allesamt verschiedene neue Nationalstaaten folgten, die aus multiethnischen und multireligiösen Reichsverbänden ethnisch homogene Nationalstaaten bilden wollten.

War der Erste Weltkrieg noch ein Krieg zwischen Nationen, so wurde der Zweite zu einem totalen Krieg. Dieser soll, so Diner, bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 als ein aus der ultrarevisionistischen Politik des Deutschen Reiches erwachsener Staatenkrieg geführt worden sein, nach 1941 sei er jedoch im Osten als rassenideologisch begründeter totaler Bürgerkrieg geführt worden. Winston Churchill wie Theodore Roosevelt hätten darauf konsequenterweise mit der Forderung der bedingungslosen Kapitulation geantwortet.

Problematisch ist Diners These, in den ethnifizierten, rassistischen und im Grunde völkischen Balkankriegen vor und nach dem Ersten Weltkrieg und im türkischen Völkermord an den Armeniern sowie während des Bürgerkriegs im Baltikum von 1918 bis 1920 habe sich eine Massaker-Mentalität entwickelt, die Vorbild für die Vernichtungspolitik des deutschen Reiches geworden sei. Diner behauptet, insbesondere die Freikorps seien vom Bürgerkrieg im Baltikum beeinflusst gewesen, wo es um ethnische Grenzziehungen ging und wo diese mit dem Kampf von "Rot" gegen "Weiß" amalgamiert wurden. Damit liefert er unfreiwillig eine weichgespülte Version der Nolte-These von der "asiatischen Tat", die als Klassenmord der Bolschewiki dem Rassenmord der Nazis vorausgegangen sei. Seine geopolitische Darstellung widerspricht häufiger seinen klaren Analysen der verhängnisvollen Amalgamierung von Nationalismus und Sozialismus.

Diner arbeitet, auf die Schriften Hannah Arendts gestützt, sehr klar den Zusammenhang zwischen verschiedenen Nationalismen, Imperialismen und ethnifizierenden bzw. rassifizierenden Ideologien heraus. Erfreulich ist die klare Analyse von Stalinismus und Nationalsozialismus. Er verweist hier auf den klaren Unterschied, dass der stalinistische Terror das eigene Volk bzw. sogar die eigene Partei zum Opfer machte, während der nationalsozialistische Terror und die Vernichtungspolitik durch das eigene Volk an Anderen, insbesondere an Juden, Slawen, Sinti und Roma, verübt wurde - allesamt Gruppen, die sich national nicht eindeutig zuordnen ließen.

Diner unterscheidet strikt zwischen dem rassistischen Antibolschewismus der Nazis und dem Antikommunismus des Westens. Zwar gibt es auch hier Überschneidungen - etwa während der Interventionskriege gegen das revolutionäre Rußland 1918-1920 und in der frühen Ideologie des Kalten Krieges - generell gilt aber: "Während die westliche Variante des Antibolschewismus von einem gesellschaftlich kodierten Verständnis der sozialen Lebenswelten ausging, biologisierte die nationalsozialistische Variante den Bolschewismus allenthalben.(...) 'Bolschewismus' war für den Nationalsozialismus also weniger eine politische, sondern eine rassische Zuschreibung, in der sich 'slawisches Untermenschentum' mit 'jüdischer Intelligenz' verbanden."

Schade, dass Diner nicht näher auf das nazistische Konstrukt der "jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung" eingeht, sonst hätte er vermutlich entdeckt, dass die Verbindung beider in der nationalsozialistischen Ideologie noch weitaus konsequenter aus einer spezifisch ideologischen Amalgamierung von Nationalismus, Biologismus und gesellschaftlich-sozialen Phänomenen resultiert. Der Blick hierauf könnte freilich nicht von "Osten" her gerichtet werden, sondern müsste auf die spezifisch nationalsozialistische Verknüpfung von Nation, "Volksgemeinschaft", kapitalistischer Produktivität und imperialistischem Krieg fokussieren.

Diners Darstellung der Geschichte nach 1945 konzentriert sich auf die Dekolonialisierung, die sie begleitende Ideologie der "Dritten Welt" als Nachfolger des tiers état der französischen Revolution und auf die ihr eigene Fusionierung von nationaler und sozialer Befreiung unter dem Diktat der Blockkonfrontation sowie auf den Kalten Krieg. Nach 1945 wurden erneut die Meerengen zur Geburtsstätte des Kalten Kriegs. Die USA entwickelten während der Auseinandersetzungen in und um Bulgarien, Griechenland und Makedonien 1946/47 ihre Politik der Eindämmung gegenüber der Sowjetunion. Bis heute ist die Türkei-Politik der USA durch die geopolitische Funktion der Türkei bestimmt. Diner prognostiziert sicher zu Recht, dass mit dem EU-Beitritt der Türkei Europa als weltpolitische Macht entstehen würde.

"Das Jahrhundert verstehen" ist erfreulich, weil es erstmals die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts aus einem osteuropäischen Blickwinkel erzählt. Und es ist ärgerlich, weil nicht das Jahrhundert, sondern lediglich die Machtpolitik europäischer Staaten "verstanden" wird. Vieles bleibt spekulativ, oder der Autor liegt gar völlig daneben, z.B. wenn USA-Freund Diner meint, es sei Woodrow Wilson, Theodore Roosevelt und ihren Nachfolgern tatsächlich um das Prinzip der Freiheit gegangen, um die "Weltdemokratie", als sie in den Ersten und Zweiten Weltkrieg, in den Indochina-Krieg und in die Dekolonisierung eingriffen.

Hervorragend dagegen ist die materialreiche Kritik an der Fusion von Nationalismus, dem völkerrechtlichen Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Nationen und des Minderheitenschutzes und der sozialen Fragen. Diners Kritik des Nationalismus und der Fusion nationaler und sozialer Ideologie gehört zum Besten, was hierzu publiziert wurde. Das Scheitern der Weltrevolution durch den "Aufbau des Sozialismus in einem Land" und die notwendige Pervertierung dieses Projekts, der "Verwandlung Sowjetrusslands aus dem Zustand der Revolution in einen Staat", die "Konversion von Nation und Revolution" und beider mit dem Krieg ist für Diner eine wesentliche Ursache der Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

Die "Konversion von nationaler in soziale Semantik" war, streng formuliert, eine Bedingung der Möglichkeit der Massenvernichtungen des 20. Jahrhunderts. Die nationalsozialistisch-deutsche Verknüpfung von "nationaler und sozialer Frage", die "Synthese von Klasse und Rasse" und deren ideologische Projektion auf den "jüdischen Bolschewismus" war damit der wesentliche Grund für die Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen Regimes. Sympathisch, dass sich Diner angesichts dieser Eindeutigkeiten trotzdem gegen jede Art von religiös strukturierter "Letztbegründung" wehrt, wie sie zuletzt im "Schwarzbuch des Kommunismus" geliefert wurde.

Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. Luchterhand, München 1999, 383 S., DM 49,80