Scharpings Visionen

Das Jahr 2000 soll bei der Bundeswehr zum letzten Sparjahr werden, um Deutschlands "Glaubwürdigkeit" und Interventionsfähigkeit nicht zu gefährden.

Wenn unsereinem das Geld ausgeht, dann ist Sparen angesagt - oder Borgen. Folge: Eine neue Jeans kann erst nächsten Monat gekauft werden, und es gibt öfter "Spar"ghetti ohne den guten Rotwein. Verteidigungsminister Rudolf Scharping hat zur Zeit ganz ähnliche Probleme. Wie seine Ministerkollegen muss er im Jahr 2000 seinen Etat um sieben Prozent kürzen. Doch während die Kollegen leise jammern, brennt um die Hardthöhe die Luft. Parlamentarier, Lobbyisten der Rüstungswirtschaft, der Hardthöhen-Chef und Soldaten warnen im Chor davor, der Bundeswehr im nächsten Jahr nur noch 45,33 Milliarden Mark zur Verfügung zu stellen. Das ist ein Minus von 2,1 Milliarden im Vergleich zu diesem Jahr. Die Rede ist jedoch stets von verweigerten 3,5 Milliarden entsprechend alten Planungen, die nach den Kürzungen in den neunziger Jahren wieder eine langsame Anhebung vorsahen.

Scharping reagierte ausgesprochen schizophren. Zum einen stellte er in seiner Rolle als gehorsamer SPD-Parteisoldat Ende August die ihm abverlangten Sparmaßnahmen vor. Danach sollen in der Bundeswehr 8 000 Grundwehrdienstleistende weniger einberufen werden. Auch beim Zivilpersonal werden 1 000 Stellen wegfallen. Damit sinkt die Stärke der Truppe im nächsten Jahr auf 321 000 Mann. Bei der Beschaffung von Waffen und Ausrüstung streicht Scharping 750 Millionen Mark, bei Betriebsausgaben 450 Millionen. Die Schließung von knapp 160 kleinen Standorten steht zur Diskussion. Die Anschaffung neuer Transportflugzeuge, Aufklärungssatelliten, Schützenpanzer soll auf die lange Bank geschoben werden. Ganz gestrichen wird das Panzerabwehrraketen-System Pars 3 - wieder 350 Millionen gespart. Selbst das Leasen oder Mieten von Ausrüstung wird in Erwägung gezogen. Hinter all diesen Schritten ist eine Konzeption nicht auszumachen. Eher die Weisung an alle Ressorts, Sparvorschläge auszuarbeiten, die sofort zu Buche schlagen, den Ist-Zustand jedoch nicht antasten.

Gleichzeitig macht der Mr. Hyde in Scharping Front gegen die Sparpolitik. Genau der, der nach dem Wahlsieg im letzten Herbst den Verzicht auf weitere Sparaktionen bei der Truppe zur Bedingung für seine Amtsübernahme erhoben hatte. Zurückgetreten ist Scharping trotzdem nicht. Selbst den Ritterschlag zum Nato-Generalsekretär inklusive Versetzung nach Brüssel wehrte er ab. Vor allem nach dem Kosovo-Krieg mit seinem Prestigegewinn für die Bundeswehr scheint er endlich eine Mission für sich entdeckt zu haben. Konfrontiert mit Gegnern des Nato-Krieges wurde er zum Eiferer, verteidigte "seine Truppe" mit einem Temperament, mit dem er öffentlich zuvor nie aufgefallen war.

Während der Spardiskussion reklamierte der Verteidigungsminister schon Anfang August einen gewaltigen zusätzlichen Finanzbedarf von 20 Milliarden Mark für überfällige Modernisierungen und Waffenkäufe. Diese Summe deckt sich wie zufällig mit den 18,6 Milliarden Mark, die er im Verteidigungsressort bis 2003 eigentlich einsparen soll. In einer Rede über "Grundlinien deutscher Sicherheitspolitik", die Scharping am 8. September vor Hunderten Offizieren an der Hamburger Führungsakademie hielt, machte er schließlich seine Bedenken gegen die Kürzungen öffentlich. Die sind zum Teil national-psychologischer Natur. Gefährdet sieht er die "Glaubwürdigkeit" Deutschlands, wenn die Bundeswehr nicht mit zusätzlichen Investitionen in Führung, Aufklärungsfähigkeit, Mobilität und modernste Technologien in die Lage versetzt wird, die neuen Aufgaben der Nato-Strategie zur "Konfliktverhütung und Krisenbewältigung" vor der Haustür zu bewältigen. Ganz unbescheiden konstatiert er dabei für die Bundesrepublik allein wegen ihrer "geostrategischen Lage in der Mitte Europas", ihrer Größe und Wirtschaftskraft eine Schlüsselrolle für die Gestaltung des europäischen Umfelds.

Mit der frühzeitigen Verlegung von Truppen in Krisenregionen will Scharping unter "Minimierung eigener Verluste" Krisen und bewaffnete Konflikte auf Distanz halten. Derzeit jedoch fehlten der Bundeswehr "elementare Fähigkeiten". Als "schmerzhaft" bezeichnete er die "Abhängigkeit von den Aufklärungsergebnissen" der US-Amerikaner während des Einsatzes im Kosovo. Schließlich sei die Notwendigkeit des Baus eigener Aufklärungssatelliten immer unbestritten gewesen, nur das Geld dafür habe gefehlt.

Sein Fazit: Die Bundeswehr ist seit Jahren unterfinanziert. Dadurch seien Auftrag und Bewaffnung "aus der Balance" geraten. Im Vergleich zu Frankreich und Großbritannien hätten je Jahr gut fünf Milliarden Mark mehr aufgewendet werden müssen. Nun seien hohe Anschubfinanzierungen nötig. Scharping wünscht sich eine moderne Truppe, die "hochbeweglich, durchhaltefähig und fern der Heimat versorgbar" ist. Dabei pocht er weiter auf eine Wehrpflichtarmee, die im Kriegsfall per Mobilmachung von Reservisten zu mehrfacher Größe aufgebaut werden kann.

Nach dieser gezielt düsteren Lagebeurteilung forderte er eine Entscheidung der Regierung, um dem "außenpolitischen Gestaltungsanspruch" mit "militärischen Mitteln Geltung zu verschaffen". Nach einer letzten Durststrecke im nächsten Jahr soll mit dem Sparen 2001 endgültig Schluss sein, so sein Versprechen an die Soldaten. Andere Länder geben sich da unverkrampfter. So wollen die Niederländer das deutsch-niederländische Korps auflösen, von dem Teile gerade im Kfor-Einsatz sind. Nur um rund 810 Millionen Mark zu sparen. Und wenn Scharping mäkelt, dass Deutschland heute für sein Militär mit 1,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu wenig investiert - Wien reichen 0,8 Prozent.

Nach Antispar-Protesten von 5 000 uniformierten Mitgliedern des Deutschen Bundeswehrverbandes im Berliner ICC greift nun fast so etwas wie Mitleid mit der Bundeswehr um sich. Konträre Stimmen dringen angesichts der künstlich beförderten Angst vor militärischem Prestigeverlust, die ein wenig an die gute alte Kastrationsangst erinnert, kaum noch an die Öffentlichkeit. Dieter Lutz vom Hamburger Institut für Friedensforschung beispielsweise stellte in der Berliner Zeitung fest, dass die Nato nach dem Niedergang ihrer einstigen potenziellen Feinde in Osteuropa "einen absurden und gefährlichen Rüstungswettlauf mit sich selbst" führe. In den GUS-Staaten seien die Militärausgaben seit 1985 von 379 Milliarden Dollar auf 90 Milliarden 1997 gesunken.

Dagegen nimmt sich der Rückgang auf Nato-Seite von 496 Milliarden Dollar auf 390 Milliarden eher gering aus. Diese Einseitigkeit besteht auch bei den Ist-Stärken: Nach einem Abbau von 1,4 Millionen Mann haben die Nato-Staaten heute noch 4,5 Millionen Soldaten unter Waffen - die frühere Sowjetarmee nach Expertenmeinung nur noch 800 000. Der weltweite Waffenhandel wird von den USA und den Staaten Westeuropas zu 85 Prozent beherrscht.

Worum geht es Scharping also wirklich? Einen militärischen Angriff muss Deutschland nicht fürchten. Lediglich der zweite Platz hinter den USA in der Nato-Hackordnung und die Chefrolle in Europa werden derzeit noch von Franzosen und Briten okkupiert. Ganz in diesem Sinne prophezeite Deutschlands Verteidigungsminister in seiner Hamburger Rede eine entscheidende Weichenstellung deutscher Sicherheitspolitik, die nur vergleichbar sei mit der "Wiederbewaffnung Deutschlands".