Alles kein Drama

Theater ist heute nicht mehr am Stück zu haben. Hans-Thies Lehmanns großartiger Aufsatz zur Ästhetik der Postdramatik.

Publikum 1. "Das ist ja ganz schön modern!" raunt eine Frau zwei Reihen vor mir ihrer Begleiterin zu. Und zeigt auf einen der beiden Monitore, die links und rechts von der Bühne hängen; in irgendeinem Stadttheater inszeniert irgendein Regisseur irgendeinen griechischen Stoff. Modern also. Ist gleich diffus zeitgemäß. Ist gleich unverständlich. "Eigentlich will ich das so gar nicht sehen!" wabert der Subtext durch die Premierenvorstellung. Manchmal denke ich, für dieses Publikum ist Gustaf Gründgens immer noch State of the Art. Obwohl die noch gar nicht so alt sind. "Der konnte vielleicht spielen."

Mit dem Geschmack, das wissen wir spätestens seit der ersten Bourdieu-Lektüre, ist das so eine Sache. Trotzdem (oder gerade deshalb) erscheint das Theater-Jahrhundert als ein Kampf zwischen Bühne und Zuschauerraum. Gewiss, die Grenzen verlaufen nie so starr. Einige der Zusehenden laufen begeistert über zu dem, was wahlweise als Avantgarde oder Hype bezeichnet werden kann. Und TheatermacherInnen fallen (nicht eben gering an Zahl) auch mal jenen KollegInnen in den Rücken, die sich offensiv an traditionellen Formen abarbeiten.

Die großen Theaterentwürfe sind passé. Ob es Schillers Vorstellung einer aufgeklärt "moralischen Anstalt" ist oder Brechts Lehrstück. Was vor allem daran liegt, dass sich deren Vorstellungen von gesellschaftlicher Entwicklung überholt haben. Denn in dem Moment, da sich die Ideale der Französischen Revolution als nicht bruchlos praktizierbar erwiesen haben und sich die an Hegel geschulte marxistische Geschichtsphilosophie als doch sehr ambivalent zeigte, kann solchermaßen funktionalisiertes, oft genug didaktisches Theater nicht weiter existieren. Was bleibt: eine Menge Material.

Bedeutet das nun, dass Theater per se gescheitert ist? Dass es gänzlich an Relevanz verloren hat? Deine Chance hast du gehabt, war wohl nix, schade?! Der Frankfurter Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann hat einen Versuch vorgelegt, der darauf verzichtet, diese Konsequenzen zu ziehen. Anschaulich, überzeugend macht er das. Und wartet mit einem Theorem auf - das der "Postdramatik" -, mit dem die zahlreichen Verabschiedungen vom Theater genauso zu fassen sind wie die vielen Neuerungen.

Publikum 2. Grenzenloser Jubel. Obwohl die jüngsten Produktionen formaler Neuerer wie Robert Wilson oder die spanische Compagnie La Fura dels Baus kaum mehr als einen vagen Eindruck früherer Stärken hinterließen, wird gejubelt. Man fragt sich, ob zeitgenössische ästhetisch ambitionierte Theaterformen in der Lage sind, über den Hipness-Status hinauszugelangen. Wenn nicht: Wir hätten es mit den gleichen Distinktionsmechanismen zu tun, wie sie für das "alte" Theater als bildungsbürgerliche Selbstvergewisserungsanstalt galten.

Was also ist postdramatisches Theater? Lehmann bleibt nur scheinbar auf der Ebene formaler Diskussion. Er macht einen "tiefgreifend veränderten Modus des theatralen Zeichengebrauchs" aus. Der neue Theatertext, der seinerseits immer wieder seine Verfassung als sprachliches Gebilde reflektiert, sei "weithin ein nicht mehr dramatischer Theatertext. Der Titel 'postdramatisches Theater' signalisiert, indem er auf die literarische Gattung des Dramas anspielt, den fortbestehenden Austausch zwischen Text und Theater, auch wenn hier der Diskurs des Theaters im Zentrum steht und es daher um den Text nur als Element, Schicht und 'Material' der szenischen Gestaltung, nicht als ihren Herrscher geht."

Der neue Theatertext ist durchaus im Anschluss an poststrukturalistische Theorie zu verstehen. Dekonstruktivistische Verfahren wie bei Jacques Derrida oder Judith Butler haben Sprache als essenziellen Bestandteil der diskursiven Hervorbringung von Körper, Geschlecht, Identität etc. beschrieben. Entsprechende Mechanismen finden Eingang in postdramatische Verfahrensweisen. Detailliert beschreibt Lehmann die Interaktion von Theater und außertheatraler "Realität" hinsichtlich der Wahrnehmung bzw. Konstruktion von Raum, Zeit und Körper. Ausführlich setzt er sich mit den so genannten Neuen Medien (wie auch einigen eher alten) auseinander. Lehmann arbeitet heraus, wie intensiv sich das "postdramatische Theater" auf klassische Avantgarden bezieht.

So setzten sich Dadaismus wie Erwin Piscators Revuen formaler mit der Medialisierung der (zunehmend großstädtischen) Welt auseinander. "Die Zerschlagung der Theaterzeit in immer winzigere Stücke ist also von der neuen Kurzatmigkeit beeinflußt. Das postdramatische Theater wird diese Zertrümmerung des Kontinuums auch in die klassischen Dramen hineintragen."

Immer häufiger wird das Seh-Erlebnis einer Clip-Ästhetik anverwandelt, die allerdings weit mehr ist als der Versuch, oft allzu kurzschlüssige Kulturindustriekritik auf die Bühne zu stellen. Im Gegenteil schafft die sich verändernde Ästhetik Platz, sich mit Phänomenen wie den Konstruktionen des Körperlichen oder der Veränderung von Wahrnehmungsmustern allgemein angemessener auseinanderzusetzen, als es die Fokussierung auf "das Stück" könnte.

Hier ist ein Aufeinanderzulaufen von Text und Inszenierung zu beobachten. Aktuelle Texte von Elfriede Jelinek oder auch die späten von Heiner Müller lassen sich gar nicht mehr direkt in Handlung umsetzen. Gerade Jelineks Konzept der "Sprachflächen", die die traditionelle Personnage ersetzen, ist integraler Bestandteil der Postdramatik. Die Texte verstehen sich selber als "Material", gehen mit Vorgefundenem - von der Alltagssprache über die Presse bis zur Philosophie - in ähnlicher Art und Weise um, wie es die neuen ästhetischen Formen tun. "Hamletmaschine" oder "Sportstück" sind auch als "Verabschiedung des Dramas" zu lesen. Mit einem schönen Gruß an Karl Kraus' angeblich unspielbares "Marstheater" der "Letzten Tage der Menschheit".

Publikum 3. "Theater zu Parkhäusern", schrieb unlängst Thomas Meinecke. "Warum von rechts nach links über die Bühne gehen? Warum von links nach rechts über die Bühne gehen? Warum unmusikalisch abbremsen, innehalten und tief durchatmen, mitten im schönsten Satz? (...) Was soll der ganze Scheiß? Handlung lenkt ab. (Mein aktuelles Motto.) Und zwar von guten Texten."

Ein weiterer Referenzpunkt ist Walter Benjamins Auseinandersetzung mit der Moderne - das Denken in Ruinen. Wo "die begrifflichen Umrisse längst brüchig geworden sind", behaupte sich die Philosophie als "Entwurf". Analog dazu ist das postdramatische Theater gerade in der Abkehr von der als konsistent begriffenen Handlung wie von der didaktischen Funktion als "Essay" zu verstehen. Die Größe des "Zuschauers" wird wieder eingeführt, seine Position als Schüler überwunden.

Das bedeutet mehr Anstrengung, zugleich aber auch ein Mehr an Vergnügen im Sich-auseinander-Setzen mit dem oft fragmentarischen Bühnengeschehen. Im besten Falle stellt sich ein Denk-Zwang ein, der alles andere als irrelevant im gesellschaftlichen Sinne ist. Zugleich nimmt das Theater seine Bedeutung insofern zurück, als es sich zunehmend weniger als Weltverbesserer aufspielt.

Publikum 4. Pop-Theater? Theater heute schickt unser aller Diedrich Diederichsen ins Grenzgebiet zwischen Pop und Theater. Wechselwirkungen, ja. "Zu selten", schreibt er, "wird Pop als Prinzip thematisiert, als ein spezifisches Prinzip nämlich, den Übergang von unter anderem Ästhetik zu Politik zu gestalten." Wenn solches gelingt, Pop also nicht auf "transportable Innenausstattung" als Atmosphäre- und Zeitgeist-Generator reduziert wird, mag über den Umweg Pop tatsächlich etwas (wieder) hergestellt werden, das man früher "Gegenwartsbezug" oder "Sozialkritik" nannte.

Die Notwendigkeit des außerästhetischen Engagements von Theater liegt auf der Hand. Vielleicht wird ja irgendwann keiner mehr fragen, ob das da nun Schiller ist auf der Bühne oder nicht. Dann werden die unsäglichen Aktualisierungsstreitigkeiten sich auflösen, indem erkennbare Relevanz flächendeckend Traditionspflege ersetzt. Denen, die zwischenzeitlich spannende, feinsinnige und unterhaltende Arbeiten abliefern, wär's zu wünschen.

Mit dem "postdramatischen Theater" hat Lehmann gut hundert Jahre Theater auf einen ziemlich schlauen Begriff gebracht; indem er Entwicklungen nachzeichnet, ästhetische, kulturpolitische und allgemeinere gesellschaftliche Debatten (oder, vorsichtiger: Fragestellungen) zusammenliest, ermöglicht er, Theater neu zu diskutieren. Was notwendig ist.

Die große Frage lautet: Ist die Institution Theater am Ende des Jahrhunderts gesellschaftlich (noch) relevant? Berechtigte Frage. Die Lehmann nicht eindeutig beantworten zu wollen scheint. Am Ende erweisen sich die Brüche und Kontinuitäten des Inszenierens als eine Art Spiegel der Veränderungen, denen Gesellschaft, Wahrnehmung usw. unterworfen sind. Auch deshalb ist es ein unverzichtbares Buch. Selbst wenn schlagartig alle beginnen, jede Produktion auf postdramatische Qualitäten abzuklopfen.

Das ist ein wenig kurzsichtig, denn Lehmann vermeidet es geschickt, aus seinen Beobachtungen und Schlussfolgerungen ein ästhetisches Dogma zu basteln. Dafür ist das Bild, welches er zeichnet, zu vielschichtig, sind die Produktionen in ihrer Unterschiedlichkeit zu spannend, um unter neue Labels wie "Pop" oder Ähnliches subsumiert zu werden. Das Drama ist tot, es lebe das Theater! Noch müssen sich die Beteiligten, von der Regisseurin zum Kritiker, nicht nach Jobs als Kartenabreißer oder Liftboy umsehen. Und: Parkhäuser gibt's sowieso schon genug.

Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Verlag der Autoren, Frankfurt/M. 1999, 510 S., DM 48