Alles ist wieder gut

Helmut Dubiel hat die Debatten des Bundestages zum Nationalsozialismus untersucht: Die Demokratie hat ihren Test bestanden.

jochen baumann

Es ist, als hätte die antinationale und antideutsche Strömung die Deutungsmacht über die deutsche Vergangenheit und Gegenwart gewonnen: "Deutschland denken heißt Auschwitz denken" ist ein Slogan, der in der politischen Kultur der fünfziger Jahre unvorstellbar gewesen wäre, heute aber, wie verdreht auch immer, durchaus Konsensfähigkeit besitzt. "So viel Erinnerung war nie" lautet denn auch das Fazit Helmut Dubiels, der die Debatten über die nationalsozialistische Herrschaft im Deutschen Bundestag zwischen 1949 und 1995 ausgewertet hat.

In seinem Buch "Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages" will Dubiel, Wissenschaftler am Frankfurter Institut für Sozialforschung, eine systematische Analyse über die offizielle Geschichtsbewältigung durch die deutsche Politik vorlegen und damit die "Eröffnungsbilanz für die geschichtspolitische Legitimation der Berliner Republik" liefern. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Dubiel behauptet, die Demokratie habe den Lackmustest bestanden, heute sei Auschwitz im kollektiven Bewusstsein der politischen Kultur verankert, es sei sozusagen zu einem "Gründungsmythos" der Republik geworden. Ob dies Auschwitz und seiner historischen Bedeutung gerecht wird, interessiert den Geschichtspolitiker dabei weniger, schließlich ist auch Dubiel Fürsprecher einer staatlichen "Politik der Erinnerung".

Für die fünfziger Jahre sei eine "Universalisierung des Täterverdachts" in eine "Universalisierung der Opfervermutung" umgewandelt worden und schließlich prägend geworden. Der Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches konnte die NS-Vergangenheit wegen seines Alleinvertretungsanspruchs der deutschen Nation sowie der Anforderungen, die der Kalte Krieg an die BRD stellte, nicht völlig ausblenden. Es dominierten aber Abwehr und Relativierung. Adenauer-Regierung wie Schumacher-SPD waren sich darin einig, dass Juden-Verfolgung und Shoah lediglich eine Katastrophe im Kontext einer viel größeren Katastrophe darstellten: dem "Grauen des Krieges", das vor allem Deutsche getroffen habe und an dessen Folgen auch in den fünfziger Jahren vor allem die Deutschen zu leiden hätten. Die Ideologie des Antikommunismus und Antitotalitarismus bildete die Ersatzidentitäten aus, welche die deutsche Identität füllen sollte.

Dubiel zeigt auf, dass Äußerungen und Positionen aus den fünfziger Jahre Ende der neunziger Jahre in der Diskussion um die Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas wiederkehren. So ist es kein Zufall, dass der Antikommunist und ostdeutsche CDU-Abgeordnete Günter Nooke in der Debatte am 27. Juni 1999 zum Besten gibt: "Wir sollten diese Wunde nicht ständig reizen, denn das fördert die Entartung" - die Entartung "unseres eigenen Volkes" meint Nooke, denn wer peinige sich schon permanent selbst? Idealtypisch vereinen sich in einer derartigen Äußerung die Position, wonach die Deutschen selbst ihre eigenen Opfer sind, denn sie leiden bis heute an und wegen Auschwitz, mit einer Position, die vorgibt, nichts gegen die Erinnerung an sich zu haben, es muss eben nur eine sein, die die Lebenstüchtigkeit des deutschen Volkes nicht angreift. Dagegen hat schließlich auch die NPD nichts. Diese für die fünfziger Jahre typische Haltung existiert also auch heute noch, so auch bei Martin Walser, dessen Friedenspreis-Rede von der Politprominenz mit großem Beifall bedacht wurde.

In den sechziger Jahren, so Dubiel, wurde die NS-Vergangenheit zwischen den politischen Lagern zunehmend kontrovers diskutiert. "Wirtschaftswunder" und "formierte Gesellschaft" wurden zur Leitlinie der Politik CDU/CSU und führten zu einer Position, wie sie Ludwig Erhard vertrat: Die Deutschen hätten sich durch die "große Aufbauleistung" der "großen Bürde der Vergangenheit entledigt". Auf der anderen Seite entdeckte die SPD in der Zeit des Frankfurter Auschwitz-Prozesses und in den Verjährungsdebatten 1996, dass die Diskussion über Nationalsozialismus und Juden-Vernichtung die Demokratie festige.

In den siebziger Jahren bildete sich ein neuer staatstragender Konsens, entscheidend war hierfür das Jahr 1977: Regierung und Opposition begründeten den Kampf gegen die RAF und die totale gesellschaftliche Mobilisierung gegen den Staatsfeind, indem sie auf die historischen Lehren aus dem Nationalsozialismus verwiesen. Die RAF holte ihrerseits den Widerstand gegen das "faschistische System" nach, der damals versäumt wurde. In der vierten Verjährungsdebatte 1979 waren sich alle einig: Der Nationalsozialismus war Unrecht, die im "deutschen Namen" begangenen Verbrechen dürfen sich nicht wiederholen.

Die achtziger Jahre stehen im Zeichen der Kohlschen "Gedächtnispolitik". Thematisierung, Relativierung und Funktionalisierung der Shoah lassen sich nicht mehr voneinander trennen. Die Instrumentalisierung der Metapher "Auschwitz" führt dazu, dass mit diesem Verweis völlig unterschiedliche politische Positionen und Vorhaben begründen lassen. Die historische Singularität des industriellen Massenmords ist damit bereits angezweifelt.

In den neunziger Jahren dominiert eine penetrante Konsensstiftung. Nach dem Historikerstreit sind alle Debatten des Bundestages gekennzeichnet durch ein Bemühen, Konflikte um die Interpretation der NS-Geschichte zu vermeiden. Vorherrschend wird eine schizophrene Haltung, welche einerseits auf die Einmaligkeit der organisierten Massenvernichtung hinweist, andererseits aber daraus eine "besondere deutsche Verantwortung" ableitet.

Dubiel nimmt diese Selbstwahrnehmung des nationalpolitischen Kollektivs ernst und behauptet zusammenfassend, dass Deutschland sich, auf lange Sicht betrachtet, von einer konventionellen nationalen Identität gelöst habe und diese durch eine "Legitimationskultur" ersetzt habe. Welchem Zweck diese Kultur dient, nämlich der nationalen Identitätsstiftung einer ökonomischen, politischen und moralischen Großmacht, entgeht dem Zivilgesellschaftler allerdings.

Heute, angesichts der Legitimierung der deutschen Außenpolitik und der Intervention im Kosovo mit dem Verweis auf die NS-Vergangenheit, ist sicherlich eher eine Inflationierung der Metapher Auschwitz zu beklagen, als dass die Juden-Vernichtung nicht thematisiert oder dass sie verschwiegen würde. In seinem Buch "Zweierlei Holocaust" kritisiert Moshe Zuckermann zu Recht diese Tendenz, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in der US-Holocaust-Industrie und der staatlichen Gedenkpolitik Israels zu beobachten ist. Die Mythologisierung der Shoah beruht auf einer festgelegten, eindimensionalen Deutung, die für die Identität eines politischen Kollektivs genutzt wird. Die offizielle politische Kultur in Israel handelt - unter entgegengesetzten historischen Vorzeichen - nicht anders als die deutsche. Staatliche Gedenkkultur muss, folgt man Zuckermanns Argumenten, den Holocaust zwangsläufig entmaterialisieren und mythologisieren.

Zugleich "entdeckt" die deutsche Öffentlichkeit überall in der Welt - in Bosnien, im Kosovo, in Ruanda - Konzentrationslager und Genozid und betreibt moralischen Imperialismus. So setzt sich der Gedanke in der deutschen Öffentlichkeit allmählich durch, dass auch die anderen ihre Leichen im Keller haben, und dass jetzt doch bitteschön Frankreich über die Kollaboration, Russland über den Gulag, die USA über Vietnam etc. nachdenken sollen, anstatt immer auf Deutschland zu blicken. Auschwitz wird zum Exportschlager einer moralischen Außenpolitik und zum Gründungsmythos der Bundesrepublik.

Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages. Carl Hanser, München, Wien 1999, 304 S., DM 39, 80