Guter und schlechter Geschmack

Apotheose des Neo-Muckertums

Es gibt Platten, die erwischen einen kalt von hinten. Die schlagen eine Saite an, die man vergessen oder verdrängt glaubte, deren Schwingen man sich aber auf einmal kaum entziehen kann. Gegenden tauchen aus dem kulturellen Unbewussten auf, die man seit der Kindheit nicht mehr gesehen hat, und auf deren Anblick man glaubte, gut verzichten zu können. Gegenden, die man nie betreten möchte, weil sie schwer verstrahlt sind. Wie etwa Stadion-Fusion-Jazzrock. Die vermuckteste Musik der Popgeschichte. Männer mit angestrengtem und gleichwohl konzentriertem Gesichtsausdruck und fürchterlichen Frisuren, die eine Musik spielen, die vor allem aus ihrer eigenen Perfektion, der Größe der Bühne und der Höhe der Boxentürme bestand.

"Karoshi" von Salaryman - eine dieser Platten, die einen ins kulturell Halbbewusste stoßen. Natürlich ist das kein Stadion-Jazzrock, weil kein Gesang (sehr wichtig), kein Stadion (auch wichtig) und kein Rock (weil der ja tot ist). Man könnte es auch Post-Jazzrock nennen, wenn Kategorien wichtig wären. Sind sie aber nicht, denn hier geht es um Gefühl - musikalisches Gefühl, genauer gesagt. Darum, einen bestimmten Sound nachzustellen, ohne den ganzen, normalerweise dazugehörigen nichtmusikalischen Rest wie Werte, Machtpositionen oder Frisuren. Nur das musikalische Nachempfinden von Körper- und Seelenzuständen. Und dafür widmen sich Salaryman eben dieser eigentlich Haare-zu-Berge-stehen-lassenden Spielart von Siebziger-Jahre-Freiheitssuche. Orgeln, endlose Gitarrensoli und mächtige Schlagzeugwirbel. Monstergrooves nannte man so etwas damals, und für "Karoshi" gilt es, diese Bezeichnung zu entstauben und zu neuen Ehren kommen zu lassen. Eigentlich schreit diese Musik nach riesigen Hallen mit gigantischen Licht-Shows. Dann müsste noch einmal neu nachgedacht werden. Bisher hört sie sich nur so an. Und führt den Neo-Mucker in die Popgeschichte ein.

Mit dem Cinematic Orchestra verhält es sich ähnlich. Nur, dass das Objekt des musikalischen Begehrens ein vollkommen Anderes ist. Nicht der ausgesucht schlechte Geschmack von Salaryman bestimmt das Geschehen: Hier geht es um Anfang-Siebziger-Film-Soundtracks - wie etwa Lalo Schifrin - und um elektrischen Jazz aus der gleichen Zeit, wie den von Herbie Hancock oder Miles Davis. Also der coolste Scheiß, den man sich im Moment so vorstellen kann. Trotzdem die zweitvermuckteste Musik der Popgeschichte.

Nicht weil die Protagonisten selbst Mucker gewesen wären, sondern weil sie die ultimativen Muckeridole waren. Das Cinematic Orchestra verlegt nun die Bewunderung auf einen anderen Aspekt. Galt sie früher vor allem der handwerklichen Perfektion, dann gilt sie heute vor allem dem Sound. Dem der Streicher, des Basses, der Bläsersätze und dem des Beckens. Und das versucht das Cinematic Orchestra nachzustellen. Neo-Muckertum auch hier, gebrochen durch den Einsatz von Samplern, also mit einem gewissen Hang zur Frickelei.

Wunderschöne Platten, alle beide. Those who forget the past are doomed to repeat it. Es ist zum Haare-Wachsen-Lassen.

Salaryman: "Karoshi". city slang (EFA) The Cinematic Orchestra: "Motion". Form & Function (Zomba)