Aus und vorbei

Wenn alle scheitern, kann keiner verlieren. Sándor Tars Dorf-Geschichte »Ein Bier für mein Pferd«.

Irgendwo in der ungarischen Puszta. Jancsi Hesz ist arbeitslos. Wie fast alle in dem kleinen Dorf, das im Grunde nur aus einer Straße besteht. Trotzdem ist er immer in Eile. Meist flieht er vor seiner Schwiegermutter, die sich in alles einmischt und sogar wissen will, wie oft er mit seiner Frau schläft. Nur in einer der beiden Dorf-Kneipen fühlt er sich sicher: Hier sind auch all die anderen schon früh morgens versammelt, um die ersten Halben zu kippen.

Sud‡k beispielsweise. Er erzählt von seiner Frau, die er gerade zum Arzt geschickt hat, weil er wissen will, ob sie Kinder bekommen kann. Später fragt er den Arzt, was los ist. "Nichts Besonderes", sagt der, "aber Ihre Frau muss sich in Bälde die halbe Lunge rausnehmen lassen." - "Die Lunge", fragt Sud‡k, "und warum?" - "Damit die Leber Platz hat."

Diese und andere Geschichten erzählt der 58jährige Ungar S‡ndor Tar in seinem Roman "Ein Bier für mein Pferd". Das Buch erschien 1995 in Ungarn und wurde dort zum "Buch des Jahres" gekürt. Über sich selbst sagt S‡ndor Tar: "Ich denke, nichts an mir ist so ungewöhnlich, dass es mich von anderen unterscheidet, abgesehen davon, dass ich Geschichten schreibe." Und was für Geschichten!

Die einfachen Bewohner des namenlosen Dorfes versuchen, dem postsozialistischen Leben ein bisschen Glück abzutrotzen. Und schenken sich dabei nichts. Ehebruch, kleinere Diebstähle und vor allem viel Alkohol machen das Leben in der Provinz erträglich. Der einzige Trost ist, dass man es nicht merkt, wann man den Verstand verliert.

Wer es nicht schafft, sich mit Alkohol um den Verstand zu bringen, der versucht es auf andere Weise. Eine Frau hat ihr bestes Kleid angezogen und sich auf die Schienen gelegt. Ausgerechnet die geschwätzige Schwiegermutter von Jancsi Hesz findet sie. Aber anstatt die Frau von den Schienen zu ziehen, geht die Schwiegermutter zurück ins Dorf, wäscht sich das Gesicht, spült sich den Dreck von den Gummistiefeln und berichtet, was sie gesehen hat. Die anderen geraten in Panik. Aber die Schwiegermutter beruhigt sie: Der Zug sei doch schon durch.

Darauf wird angestoßen, auch Dorogis Pferd bekommt was ab. Schließlich soll niemand zu kurz kommen, und ein bestimmter Pegel muss gehalten werden, sonst stellt man sich schnell die Frage: "Wozu lebe ich?" Und das bringt den zwei Dutzend Arbeitslosen und den "schlecht gekleideten Halb-Bauer-halb-Arbeiter-Typen, mit denen das Land voll ist", nur Kummer. Einmal in der Woche gibt es eine Schlägerei, aber hinterher hilft man sich gegenseitig wieder auf.

"Ungarn unbegrenzt" lautete das Motto der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, und es scheint, als habe S‡ndor Tar dies wörtlich genommen. Jeder kann in "Ein Bier für mein Pferd" machen, was er will. Es gibt keine Regeln. An die eigenen Grenzen stößt man früh genug. Der Roman ist ein Panoptikum des Scheiterns, in dem es keine Verlierer gibt. Sozial verarmt und vernachlässigt, haben die Protagonisten nachträglich den Kommunismus verwirklicht, die Klassenunterschiede sind verwischt, nur der Alkoholpegel läßt eine Differenzierung zu.

Alle teilen das gleiche Schicksal. Gebunden an ihr Dasein, bleibt ihnen nur der Andere, dem es ähnlich geht. Jeder will weg, aber man schafft es nur bis zur Eckkneipe. Manche schaffen nicht einmal das. Wie der alte Lakatos, dem man ein Bein abgenommen hat. Seine Frau geht ihm auf die Nerven, ihr gelingt es, noch vor ihm betrunken zu sein, und sie sagt immer wieder: "Wir sterben sowieso bald." Lakatos hat genug und haut ab. Völlig betrunken steht er am Gartentor und wartet auf den Zug. Den Bretterzaun hält er für einen Eisenbahnwagen. Als er einsteigen will, reißt seine Frau ihn zurück und beide stürzen. "Nächstes Mal schaff ich es", sagt er, und: "Ich lieb dich, du Luder!"

Trotz aller Bitterkeit und Tristesse lachen Tars Figuren und lieben sich, wo sie nur können. "Umworben wird schnell und zielstrebig", sagt der Amtsarzt, "so fängt es an, die sexuelle Kultur ist seicht" und: "Die Kinder kommen zu früh auf die Welt. An der Hochzeit gemessen." Niemand stört sich an diesem Lauf der Dinge. Man sagt sich: So ist das nun mal. Und dabei bleibt es. Nur der Dorfpfarrer ist erschüttert über diesen "Sumpf", über die Gottlosigkeit. Nicht nur, dass alle ständig betrunken sind, jede scheint mit jedem zu schlafen. Und auch vor Tieren wird nicht Halt gemacht. Der Pfarrer predigt gegen diese Sünden, aber keiner geht in die Kirche. Er leidet darunter, dass niemand ihn liebt.

Seit 32 Jahren erforscht er die Entstehungsgeschichte des Dorfes. Überall buddelt er nach historischen Überresten. Als die Straße wegen einer Wasserleitung aufgerissen werden muss, kommt ihm das gerade recht. Außer weggeworfenen Kippen, geplatzten Kondomen und einem Gesangbuch, das er am Tag zuvor verschenkt hat, ist aber nichts zu finden. "Nichts wird, nur die Kacke qualmt."

Die Alten haben schon mit dem Leben abgeschlossen, sie sind seit Jahren arbeitslos. Immer noch erzählen sie, was für "Asse" sie im Betrieb waren und dass sie jederzeit wieder eingesetzt werden könnten. Aber insgeheim wissen sie, da ist nichts mehr zu machen. Die Genossenschaften haben sich aufgelöst, Arbeitsplätze wurden wegrationalisiert, einfache Arbeiter braucht niemand mehr. Sie leben von einer kleinen Rente und von der Hoffnung, nicht eines Tages nüchtern aufwachen zu müssen.

Die Jungen haben noch das ganze Leben vor sich, und genau das ist zum Verrücktwerden. Manche brechen für kurze Zeit aus, ziehen nach Debrecen oder in andere Kleinstädte. Eine eigene Existenz wollen sie sich aufbauen, aber die Vergangenheit holt sie ein. Auch sie fangen an zu trinken.

S‡ndor Tar gelingt es, Elend und Komik so zu verbinden, dass man immer zwischen Schadenfreude und Mitleid schwankt. Mit einfachen knappen Sätzen reißt er eine Situation an und zieht dann mit einer Pointe an seelischen Abgründen vorbei. Die Beschreibung der Oberfläche nimmt den Geschichten jede Schwere, aber eine gewisse Traurigkeit bleibt.

Sandor Tar: Ein Bier für mein Pferd. Volk & Welt, Berlin 1999, 230 S., DM 32