(Schweden-melancholie)

Eine Sammlung kranker Streichhölzer.

Seit einigen Jahren sammle ich kranke Streichhölzer. Wer immer von meiner Sammlung hört, fischt gewöhnlich bei der nächsten Berührung mit einer Streichholzschachtel ein geeignetes Objekt meiner Begierde heraus. Zu auffallend sind die Abnormitäten im scheinbaren Konformismus innerhalb einer Streichholzschachtel, als dass sie nicht sofort entdeckt würden.

Man sammelt so vieles, von dem man im Alltag mehr oder weniger Gebrauch macht: Schallplatten, Kleider, Möbel und die Zahnbürsten eines Lebens ergäben nebeneinander eine Sammlung persönlicher Kulturgeschichte. Die besonderen Objekte meiner Leidenschaft sind jene, die sich unerwartet von den anderen Objekten unterscheiden. Die Abweichungen fallen umso mehr auf, je enger der Rahmen der Erscheinung gesteckt ist.

Ein Streichholz beschreiben könnte jeder ohne Anstrengung bewerkstelligen. Doch ist das unbenutzbare/funktionslose Streichholz noch ein Zündholz? Streichhölzer, deren Köpfe gesplittet sind, dienen mit ihrem kopflosen Ende höchstens als gefährliche Ohrenputzer. Siamesische Streichhölzer finden Verwendung, wenn sie brutal auseinander gerissen werden. So habe ich Sympathie und Mitleid für diese Abfallkreaturen entwickelt. Ihr Charme beruht auf der Natürlichkeit des Materials und der Erinnerung an technisch einfache frühindustrielle Massenproduktion.

Kein Streichholz gleicht dem anderen. In der Produkterscheinung variieren die Holzarten, die zuweilen eingefärbt sind, die Größen sind unterschiedlich, die Zündköpfe sind rot, weiß, blau, grün oder andersfarbig, der Stamm ist quadratisch, seltener rund usw. Das individuelle Streichholz unterscheidet sich vom anderen erst auf den zweiten Blick: Das Holz ist gesplisst, schwankt zwischen quadratisch, rund, sechseckig und flacher Latte, die Kopfformen liegen in einem Kontinuum zwischen Stahlhelm und Zipfelmütze. Und neben ihnen, in den äußersten Nischen der Streichholzwelt, warten meine Lieblinge, die ausgestoßenen Individualisten.

Mein Dank gilt allen, die sich - nachdem sie von meinen Streichhölzern gehört haben - unaufgefordert als Agenten meiner Sammlung betätigen. Und mir die auffälligsten Prachtexemplare zukommen lassen.

Streichholz mit verlorenem Kopf

Alle Teile (Stamm und Kopf) sind vollständig erhalten, wohlgeformt und unzerstört. Dennoch ist es als Zündholz unbrauchbar, todkrank. Es ist mein liebstes Stück, weil es in seiner Krankheit noch fragiler geworden ist und durch die krasse Darstellung der Funktionsabhängigkeit von Stamm und Kopf mein Mitleid erregt. In meiner Sammlung bildet es auf Grund der Seltenheit quasi die "Blaue Mauritius".

Verhungerte Streichhölzer

Würde man sie benutzen, würden sie kurz vor dem Moment des Zündens abbrechen. Darum bezeichne ich sie auch nicht lediglich als dünne, anorexische Streichhölzer, sondern versuche, in der Gattungsbezeichnung ihre Schwächlichkeit zum Ausdruck kommen zu lassen. Mich selbst frage ich, ob ihre anziehende Eleganz nicht auf der gleichen Fehlbetrachtung beruht, die "schlank" gleich "schön" setzt!?

Siamesische Streichhölzer

Welch ein schönes Symbol! Die einzige Weise einer Vereinigung von Streichhölzern. Sammlerisch betrachtet, wächst der Wert mit dem Grad des Winkels zwischen den beiden Streichhölzern. Ein siamesisches Streichholz mit einem Abstandswinkel von 180¡ wäre mit einem fünfblättrigen Kleeblatt vergleichbar.

Spaltkopfstreichhölzer

Sammlerwert und Grad der Individualität hängen hier von der Zahl der Aufspaltungen und deren Ausformungen ab. Ästhetischen Wert gewinnen die Exemplare durch die Anzahl der mit einer Zündkappe versehenen Ästchen. Dem Geschmack des Sammlers muss überlassen werden, ob ihn die symmetrischen, deltaförmigen Doppelköpfchen oder die chaotischen Vielfachverästelungen ansprechen.

Krumme Streichhölzer

Sie sind meist identisch mit (den hier nicht abgebildeten) Streichhölzern mit Holzkankheiten. Ich vermute, dass zwischen den von Holzkrankheiten befallenen Teilen und den gesunden Teilen beim Trocknungsprozess des Holzes Spannungen entstehen, die das Streichholz verformen (ähnlich wie bei Bimetallstreifen, die zur Temperaturmessung eingesetzt werden).

Der Text erschien zuerst in Kryptische Konzepte, 1-12, 1995.