Sex im Anderswo

Catherine Breillats "Romance" wird als weibliche Antwort auf Stanley Kubricks "Eyes Wide Shut" gehandelt. Warum eigentlich?

Einer kleinen Privatradio-Station in Großbritannien ist eine bemerkenswerte Innovation auf dem Sektor der Zuschauer-Bindung gelungen: Zwei Seniorinnen aus dem Sendegebiet bekamen Kinokarten und mussten anschließend vor offenen Mikros den Film diskutieren. Den Auftakt bildete Stanley Kubricks "Eyes Wide Shut", den beide Frauen eher langatmig fanden. Die eine monierte, dass man die Eier von Tom Cruise, seine "jiggly parts", wie sie es nannte, nicht ein einziges Mal im Bild sehen konnte.

"Romance", den neuen Film der französischen Regisseurin Catherine Breillat, der dieser Tage in Frankreich und in Großbritannien angelaufen ist und der als weibliche Antwort auf Kubrick gehandelt wird, haben die beiden noch nicht gesehen. Mangelnde Offenherzigkeit hätten sie daran weit weniger zu beklagen. "Romance" ist, gewissen primären Geschlechtsmerkmalen nach zu urteilen, ein Porno. Man sieht viel nackte Haut und sogar, erstmalig im Mainstream-Kino (zumindest in Großbritannien), einen erigierten Schwanz. Noch dazu nicht irgendeinen Schwanz, sondern den des italienischen Porno-Stars Rocco Siffredi, der (männlichen) Legende nach über viertausend Mal bewährt in anderem filmischem Kontext.

Dass "Romance" weder von der französischen Kommission, die das Geld bewilligt hat, noch vom britischen Filmboard, das über die Zumutbarkeit fürs Publikum befindet, beanstandet wurde und also unzensiert in den Kinos gezeigt werden kann, hat damit zu tun, dass der Film, gewissen sekundären Merkmalen nach zu urteilen, kein Porno ist. "Männer, die sich daran aufgeilen wollen, werden enttäuscht sein", vermutet Regisseurin Breillat bei einer Diskussion über den Film im Londoner National Film Theater, "es ist kein heißer Film, sondern ein eiskalter". Ihr sei es bei dem zwanzig Jahre lang gehegten Projekt darum gegangen, die Abgründe weiblicher Sexualität und Begierde auszuloten und sich dabei bis an die Grenze der Darstellbarkeit im Kino heranzutasten.

Tatsächlich traut man der 51jährigen, die selbst in erotischen Filmen mitgespielt und mit 17 ihren ersten Roman ("L' Homme facile") geschrieben hat, der in den Läden erst ab 18 zu kaufen war, und deren gesamtes filmisches und literarisches Schaffen um Sexualität kreist, einen derart utopischen Ansatz ohne Weiteres zu: Mit einem Wurf 5000 Jahre Geschichte der Pornografie und der phallozentrischen Definition von Sex zu annullieren, tabula rasa zu machen, um anschließend das Feld der Begierde von weiblicher Seite neu zu besetzen.

Auf der Leinwand nimmt sich das Ganze dagegen über weite Strecken weitaus konventioneller aus: Die ätherische Grundschullehrerin Marie, gespielt von der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 20jährigen Caroline Ducey, ist frustriert, weil ihr anämisch-schöner Yuppie-Freund Paul (Sagamore Stévenin) keinen Sex mit ihr haben will. Sie bricht aus der ganz in Weiß gehaltenen Designer-Wohnung aus und trifft in der Kneipe auf eine Barfly: Rocco Siffredi, schon ein wenig verlebt, aber notgeil bis dorthinaus. Seine Freundin sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen, ächzt er, und er habe seit vier Monaten keine Frau mehr gehabt.

Das sexuelle Abenteuer mit ihm ist der Anfang einer Odyssee, im Laufe deren Marie auf der Treppe von einem Penner vergewaltigt wird und schließlich beim wesentlich älteren Robert (Fran ç ois Beréland) landet, der sie in die Welt des Sadomasochismus einführt; und das ist genau, was sie gebraucht und gesucht hat - vermutlich.

Genau wissen wir das nicht, denn bis zum Ende bleibt Marie merkwürdig apathisch und verträumt und scheint nicht ganz von dieser Welt zu sein. Auch wenn sie zwischendurch Sätze sagt wie: "Mir ist egal, wer meine Möse stopft" oder: "Die Länge spielt keine Rolle, auf die Dicke kommt es an". Auf der Suche nach dem Geschmack von Freiheit und Abenteuer ekelt sie sich davor, einen Schwanz in den Mund zu nehmen. Ihre sexuelle Phantasie erschöpft sich in der Vorstellung, bis zur Taille in einer Trennwand zu stecken, so dass sie nicht sehen kann, wer sie von hinten vögelt.

Marie ist die Leinwandversion der These von Luce Irigaray, wonach weibliche Ekstase immer "anderswo" stattfindet. Die einzige Veränderung in der Person und im ansonsten linearen Film kommt dementsprechend nicht durch erotische Grenzüberschreitung zu Stande, sondern durch die Tatsache, dass sie auf geheimnisvolle Weise von ihrem festen Freund Paul schwanger geworden ist. Das bietet Gelegenheit für eine der stärksten Szenen des Films. Einer Gruppe männlicher Medizinstudenten wird Marie als Anschauungsobjekt präsentiert, und der Reihe nach dürfen alle mal fühlen.

Mit Sex hat das nur noch entfernt etwas zu tun, mit Ausgeliefert-Sein allerdings . Hier sieht es so aus, als seien die Medizinstudenten vom erniedrigenden Geschehen mindestens ebenso peinlich berührt wie Marie. Was die Szene suggeriert, ist die schöne Pointe, dass die eigentlichen Perversionen ohnehin außerhalb der sexuellen Spielwiesen stattfinden. Dass die reich bebilderte Geburt am Ende des Films nach allen Eskapaden das kathartische Ereignis für Marie ist, nach dem sie sich endlich als Frau fühlen kann, lässt sich vielleicht auch mit den biografischen Erfahrungen der Regisseurin erklären, denn "Romance" ist auch ein sehr persönlicher Film. Insgesamt hat der Film etwas von einer Mogelpackung. Nicht, weil er die voyeuristische Erwartungshaltung unterläuft, sondern weil er, gemessen an den eigenen Ansprüchen, enttäuscht. Zwanzig Jahre lang hat Breillat sich mit der Idee beschäftigt, einen Film über weiblichen Masochismus zu machen, ein Thema, das immer noch tabuisiert sei oder, insbesondere im Feminismus, kontrovers verhandelt wird. Auch wenn man das heute, in Zeiten inflationierten Redens über alle Formen des Sex, ein wenig anzweifeln kann, haben einzelne Bilder des Films in ihrer nüchternen Drastik durchaus etwas Irritierendes.

Kein Mann hätte "Romance" machen können, und dass ein Film an den Aporien des Genres, das ja noch gar keines ist, scheitern würde, war abzusehen. Dabei lässt sich dieses Scheitern - die Zugeständnisse an den Markt und das Mainstream-Kino, die stilistische Unentschlossenheit - durchaus auch interpretieren als gelungene Mimikry, wie es Irigaray als feministische Strategie vorschlägt. Breillat benutzt die öffentliche Erregung, die nicht zuletzt durch das Zeigen von Siffredis Genital ausgelöst wurde, um die Aufmerksamkeit auf etwas ganz Anderes zu lenken. Etwa auf jenen Umstand, der legitimerweise nur von einer Frau artikuliert werden kann: dass es durchaus unerquicklich ist, wenn jener neue Typus Mann, der sich selbst seiner Verständigkeit rühmt, gefragt nach seinen Phantasien, stereotyp antwortet: "Was immer deine Phantasien sind, Schatz!" So geht es nämlich auch nicht, und der Film hat hier, wenn auch keine cineastischen, so sicher diskursstrukturierende Qualitäten.

Indem der Film versucht, das Augenmerk nicht nur auf die angenehmen Halbwahrheiten über weibliche Sexualität zu lenken, sondern auch auf unangenehme Wahrheiten des diskursiven Umgangs damit, setzt sich "Romance" ein bisschen zwischen alle Stühle. Aber wer sagt eigentlich, dass man dort nicht auch in Zukunft besseren Sex haben kann, wenn man sich ein wenig Mühe gibt?

"Romance". GB/F 1998, R: Catherine Breillat. D: Caroline Ducey, Sagamore Stévenin, Fran ç ois Beréland, Rocco Siffredi