Alternative Lebensformen

Demos überall

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Ganz richtig, Herr Werthebach! So wie bisher kann es nicht weitergehen. Klar, dass Sie als Berliner Innensenator nicht tatenlos zusehen dürfen.

Denn es besteht dringender Handlungsbedarf. Verglichen mit den heutigen Zuständen waren selbst die Proteste der Achtundsechziger-Studenten und das Gebaren der Hausbesetzer in den achtziger Jahren harmlos. Was, werter Herr Werthebach, ist das für eine Stadt - überall Demonstrationen. Gegen Regierung, gegen Privatisierung, gegen Globalisierung, gegen dies und gegen das. Oder auch einfach nur zum Spaß. Mit Techno-Musik, mit Trillerpfeifen, mit irrsinnigen Forderungen, auf Rollerblades, auf den wichtigsten und größten Straßen der Stadt.

Über 2 000 Demonstrationen in den ersten zehn Monaten dieses Jahres. Und zwar immer und immer wieder in der Mitte Berlins, im Herzen von Hauptstadt und Regierungssitz. Die Polizei ist überfordert, der Straßenverkehr liegt lahm, Berlin-Besucher sind total irritiert und die Bewohner der Stadtmitte sind bereits völlig entnervt. Und was tun Sie, Herr Werthebach? Alles verbieten? Das ist endlich mal eine gute Idee.

Bisher gibt es ja nur einen "befriedeten Bezirk" rund um das Reichstagsgebäude. Der aber schließt noch nicht einmal das Brandenburger Tor ein. Und schon, Herr Werthebach, haben Sie den Demo-Salat. Das Tor ist ein nationales Symbol - seit der Reichsgründung, seit der Weimarer Republik, seit Hitler, seit der Stunde Null, und erst recht seit dem 9. November vor zehn Jahren. Die Deutschen lieben ihre nationalen Symbole und pilgern dorthin, wann immer möglich. Erst recht, wenn sie überzeugt sind, sie hätten was Wichtiges mitzuteilen.

Klarer Fall: Die Versammlungsfreiheit ist schuld. Dank Ausländergesetz genießen ja fast nur noch Deutsche dieses Recht. Verbessert hat das nichts - im Gegenteil. Denn die Deutschen, Herr Senator, sind viel schlimmer: Die demonstrieren ständig und wegen der banalsten Scheiße. Also weg mit der Versammlungsfreiheit! Zumindest nicht mehr in der Mitte Berlins. Der SPD-Politiker Hans-Georg Lorenz hatte die richtige Idee: Die Veranstaltungen müssen "themenorientiert" in der Stadt verteilt werden: Die 1. Mai-Demo nach Kreuzberg, der Marathonlauf ins Olympiastadion, NPD-Aufmärsche nach Marzahn, PDS-Aufzüge gleich hinterher, die Love-Parade in irgendeine Strichstraße und protestierende Kurden am besten gleich nach Ankara. Die Opposition ist darüber zwar nicht begeistert, aber das ist sie ja sowieso nie. Hauptsache, der Bundesrat stimmt zu und das Regierungsviertel ist bald Demo-frei.

Im Grunde gibt es noch eine bessere Möglichkeit, Herr Werthebach. Tun Sie etwas, das der ganzen Welt nutzt: Reißen Sie dieses Brandenburger Tor ab - und am besten den Reichstag und das Reichskanzleramt ebenfalls. Das ist unbürokratischer als eine Initiative im Bundesrat. Und die frei gewordene Fläche könnten Sie ja für Sinnvolleres nutzen. Für eine ausreichende Sicherheitszone um die US-Botschaft oder eine Vergrößerung des geplanten Holocaust-Mahnmals.

Okay, der deutsche Pöbel wird sich darüber nicht unbedingt freuen. Er wird sich empört ereifern und demonstrieren und protestieren wie nie zuvor.

Na und?

Diese Demos können Sie ja einfach verbieten.