Julius H. Schoeps

"Die Täter kommen aus allen Schichten"

Am "Tag der Deutschen Einheit" leisten bisher Unbekannte ihren Beitrag zur neuen Berliner Republik: Sie stürzen 103 Grabsteine auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee um. Eine Woche später werden zwei Brandsätze auf dem Friedhof gefunden. Die Täter: "unbekannt". Mitte Oktober werden auf den jüdischen Friedhöfen von Weitersburg und Bendorf in Rheinland-Pfalz 45 Gräber geschändet. Ausnahmsweise können die potenziellen Täter ermittelt werden. 55 als antisemitisch eingeordnete Fälle von "Störung der Friedhofsruhe" meldet die Kriminalitätsstatistik im vergangenen Jahr. In den ersten sechs Monaten 1999 werden 20 Fälle registriert, in fünfen die Täter ermittelt. Seit Jahren untersucht Julius H. Schoeps, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam, antisemitische Straftaten.

In den letzten Wochen häufen sich Anschläge auf jüdische Friedhöfe. Alles nur Zufall?

Nein und keinesfalls ein neues Phänomen. Seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland ist die jüdische Gemeinschaft immer wieder mit solchen Anschlägen konfrontiert. Das Besorgniserregende ist, dass sie seit einigen Jahren kontinuierlich ansteigen.

Warum gerade jüdische Friedhöfe?

Weil sie sichtbare Zeichen des Judentums im deutschsprachigen Raum sind. Vor allem auf dem Land. In kleinen Ortschaften findet man jüdische Friedhöfe, die oft am Rand gelegen sind, manchmal sogar in einem Waldgrundstück. Der Friedhof in Berlin-Weißensee ist mit seiner Lage im städtischen Bereich fast schon eine Ausnahme.

Gibt es Zeiten, in denen mehr Anschläge verübt werden?

Die Schändungen treten meist zu bestimmten Jahreszeiten auf, im Herbst, um den so genannten Totenmonat November herum und im Frühjahr, vor Ostern. Umgestürzte Steine in der Passions- und Osterzeit lassen auf klassische antijüdische Vorurteile schließen, auf die internalisierte Vorstellung, die Juden seien Gottesmörder, hätten Christus gekreuzigt.

Nehmen antisemitische Vorfälle auch nach entsprechenden Medienereignissen zu?

Wir haben ungefähr 2 300 jüdische Friedhöfe in Deutschland, davon ungefähr 1 800 in Westdeutschland, 500 in den so genannten fünf neuen Bundesländern. Normalerweise sind ungefähr zwei bis drei Friedhofsschändungen in der Woche die Regel. Diese Zahl kann in der Tat bei entsprechenden Medienereignissen ansteigen. Die Erstausstrahlung des Fernsehfilmes "Holocaust" 1978 führte zum Beispiel zu einer deutlich erkennbaren Zunahme von Übergriffen auf jüdische Friedhöfe. Der Eindruck drängt sich auf, dass immer dann, wenn eine öffentliche Debatte um deutsch-jüdische Beziehungsprobleme stattfindet, Friedhofsverwüstungen die Folge sind.

Die Polizei spricht oft von "Jugendstreichen", "unpolitischen Taten" und "verwirrten Einzeltätern". Entspricht dies auch Ihren Erkenntnissen?

Das ist eindeutig eine Verharmlosung. Aus solchen Äußerungen der Staatsschützer spricht eine Naivität, die kaum noch zu überbieten ist. Wir haben bei unseren Forschungen in den Akten der Innenministerien und Polizeibehörden immer wieder Formulierungen wie "unpolitische Tat" oder "jugendliche Rauschtat" gefunden. Dabei ist der verwendete Begriff "unpolitisch" besonders interessant. Wir haben lange gebraucht, bis wir verstanden haben, was die Ermittlungsbehörden als eine "unpolitischen Tat" klassifizieren. Wenn ein gefasster Täter keiner rechtsradikalen Organisation angehört, dann wird von einer "unpolitische Tat" gesprochen. Ist er Angehöriger einer solchen Gruppe, gilt die Tat als politisch. Das ist, zurückhaltend formuliert, ein sehr eng gefasster Begriff von "politisch".

Also eine bewusste Verharmlosung?

Das ist schlicht Ignoranz. Jede Friedhofsschändung ist ein politischer Akt, auch wenn die jugendlichen Täter oft keine eindeutige Antwort über die Motivation für ihr Tun geben können. Die Tat reflektiert praktisch das, was im Familienkreis und im Freundeskreis gesagt oder diskutiert wird - und sie spiegelt das allgemeine Klima. Das Umstürzen jüdischer Friedhofssteine gilt offensichtlich in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen als eine Mutprobe, als eine Tat, über die man zwar bestürzt ist, die aber doch meist auf Nachsicht stößt.

Würden Sie die Friedhofsschändungen als Ausdruck eines offenen Antisemitismus in Deutschland bezeichnen?

Natürlich. Was sonst? Das Schänden eines jüdischen Friedhofes ist, wie die Sozialforscher sagen, manifester Antisemitismus.

Wer sind die Täter?

Angeblich gehen zwei Drittel der Schändungsfälle auf das Konto von "Kindern und Jugendlichen". Hierbei ist jedoch Skepsis geboten. Für den einen oder anderen Fall mag die Feststellung "Vandalismus jugendlicher Rowdies" zutreffen. Es ist jedoch äußerst unglaubwürdig, dass Kinder und Jugendliche mitten in der Nacht oder am frühen Morgen - dies sind die Haupttatzeiten - zentnerschwere Grabsteine umstürzen. Es drängt sich der Eindruck auf, als ob die Benennung der Tätergruppe "Kinder und Jugendliche" mitunter nur dazu dient, von einem unangenehmen Sachverhalt abzulenken.

Aus welchem sozialen Umfeld kommen die Festgenommenen?

Es wird häufig behauptet, die Täter stammten aus so genannten gesellschaftlichen Randgruppen. Alles Quatsch. Wir haben nicht nur Auszubildende unter ihnen festgestellt, sondern auch Schüler, Berufstätige und sogar Abiturienten. Die Täter kommen aus allen sozialen Gruppen der bundesdeutschen Gesellschaft. So gesehen gibt es also kein ausgesprochenes Täterprofil.

Welche Strafen werden verhängt und mit welcher Begründung?

Zunächst einmal: Die Täter werden nur in den seltensten Fällen gefasst. Und wenn sie gefasst werden, dann werden sie mit Nachsicht behandelt.

Handelt es sich vor allem um Einzeltäter?

Das kann man so nicht sagen. Meist geht es um mehrere Täter. Sie müssen nicht unbedingt einer rechtsradikalen Gruppierung angehören. Es kann eine Gang sein, deren Mitglieder Mutproben ablegen wollen, es kann aber auch eine Biertischrunde sein, die sich nach reichlichem Alkoholgenuss auf den Weg macht, Grabsteine zu beschmieren oder umzustürzen. Pathologisch ist es allemal. Aus den Taten spricht eine rechtsradikal-antisemitische Einstellung, die aber nicht unbedingt auf die Zugehörigkeit zu einer rechtsradikalen Gruppierung schließen lässt. Es ist eine Einstellung, die sich quer durch die Gesellschaft zieht. Antisemitismus und Rechtsradikalismus sind nicht Probleme irgendwelcher Randgruppen, sie können auch bei einem Milieu feststellbar sein, das wir der CDU, der SPD, der PDS und den Grünen zuschreiben.

Täglich werden in den neuen Bundesländern rassistische Überfälle gemeldet. Häufen sich dort auch antisemitische Straftaten?

Nicht Besorgnis erregend. Sicher gibt es rechtsradikale Übergriffe in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und anderswo. Diese gibt es aber auch im Westen Deutschlands. Wir haben bei unseren Untersuchungen eine Häufung von Friedhofsschändungen gerade in den Gegenden registriert, in denen der Antisemitismus traditionell schon immer eine Rolle gespielt hat. In Hessen zum Beispiel. Bekannt ist, dass dort Ende des 19. Jahrhunderts die antisemitische Bewegung in der hessischen bäuerlichen und kleinbürgerlichen Bevölkerung einen festen Rückhalt hatte. Otto Böckel, der "Bauernkönig Hessens", wie der Volksliedforscher und berüchtigte Judenfeind genannt wurde, konnte hier den oberhessischen Wahlkreis Marburg-Frankenberg-Kirchhain erobern und ist 1887 für diesen als erster Abgeordneter der Antisemitenpartei in den Reichstag eingezogen.

Hat sich die Öffentlichkeit an die Friedhofsschändungen gewöhnt?

Ich fürchte, ja. Die Anormalität ist mittlerweile zur Normalität geworden. Man hat gelernt, mit den Friedhofsschändungen umzugehen. Die publizistische Öffentlichkeit nimmt Schändungen kaum noch wahr. Außer in spektakulären Fällen, wie jetzt in Berlin-Weißensee, wird darüber in der Rubrik "Vermischtes" berichtet - wenn sie überhaupt noch zur Kenntnis genommen werden.

Was sollte Ihrer Meinung nach geschehen?

Meine Mitarbeiter und ich fordern seit vielen Jahren, eine Datenbank aufzubauen, mit der flächendeckend antisemitische und rechtsradikale Taten registriert werden könnten. Diese Daten, die aufbereitet werden müssten, würden helfen, strafrechtliche und pädagogische Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Dafür müssten aber die entsprechenden Gelder zur Verfügung gestellt werden. Leider sind diese aber nicht vorhanden.