Die goldene Kette

Holzmann und Mannesmann: Der lange Abschied vom Rheinischen Kapitalismus.

Lange Zeit schien es so, als gebe es den Kapitalismus nur als Unikat. Im Vergleich mit dem osteuropäischen Staatssozialismus schienen auch alle weiteren Differenzierungen unerheblich. Erst nach dessen Zusammenbruch Anfang der neunziger Jahre hat das Konsensmodell der sozialen Marktwirtschaft die Bezeichnung Rheinischer Kapitalismus erhalten. Der französische Wirtschaftsplaner und Top-Manager Michel Albert formulierte damals als einer der ersten die verschiedenen ökonomischen Konzeptionen in Europa: Während im angelsächsischen Bereich der Markt und die Kapitalverwertung im Zentrum stehen, geht es in Kontinentaleuropa um die Organisation von gemeinsamer, solidarischer Sicherheit und Zukunftsplanung.

Albert unterschied zwischen zwei Modellen des Kapitalismus: "Das neo-amerikanische Modell basiert auf dem individuellen Erfolg und dem schnellen Gewinn. Das rheinische hat sein Zentrum in Deutschland; (...) es favorisiert den gemeinsamen Erfolg, den Konsens und das langfristige Vorausdenken."

Seit der Veröffentlichung 1991 macht der Begriff vom Rheinischen Kapitalismus Karriere und hat als Chiffre für eine strategische Option schließlich die Politik erreicht. 1996 grenzte der jetzige Außenminister Fischer das rot-grüne Projekt gegenüber der politischen Philosophie des Neoliberalismus der Zerstörung des sozialstaatlichen Konsensus ab: "Wir halten den amerikanischen, den angelsächsischen Weg in Deutschland, in Kontinentaleuropa nicht für machbar, weil das unsere Gesellschaften auseinandertreiben würde. (...) Der kontinentale, der Rheinische Kapitalismus wird immer sozialer sein müssen, als es die angelsächsische Variante ist, aus Selbsterhaltungsgründen heraus." Da die politische Philosophie von Rot-grün auf die Verteidigung des Rheinischen Kapitalismus zielt, geht es um die Frage, durch welche Prozesse das Konsensmodell unterminiert wird und ob sich diese Tendenz überhaupt aufhalten lässt.

Für Albert, der Deutschland als besondere Verkörperung des Rheinischen Kapitalismus behandelt, steht die Unternehmensverfassung im Zentrum: "An der Spitze des Unternehmens befinden sich zwei Schlüsselinstanzen: Das Direktorium, verantwortlich für die Geschäftsführung als solche, und der Aufsichtsrat, der von der Aktionärsversammlung gewählt wird. (...) Diese beiden Organe sind dazu angehalten, ständig zusammenzuarbeiten. (...) Es existiert also so etwas wie ein System des check and balance zwischen Aktionären und Direktoren. (...) Zu dieser Machtaufteilung an der Spitze kommt dann die berühmte Mitbestimmung hinzu."

Zweifelsohne sind das wichtige Pfeiler des Konsensmodells. Aber das Fundament wurde noch vor formeller Gründung der Bundesrepublik durch das Tarifvertragsgesetz von 1949 geschaffen. Vor der Verabschiedung des Grundgesetzes wurde ein Grundkompromiss zwischen Industriegewerkschaften und Unternehmen fixiert, der auf Basis der Tarifautonomie die Grundstrukturen der Arbeitsbeziehungen festlegte. Die aus der Weimarer Republik bekannte staatliche Zwangsschlichtung bei Arbeitskonflikten wurde zurückgenommen, eine Unterordnung der Betriebsräte unter das Primat der Gewerkschaften vereinbart.

Für diese Akzeptanz des kollektiven Arbeitsrechtes hatten sich die Gewerkschaften auf die Anerkennung einer sozial korrigierten kapitalistischen Wettbewerbswirtschaft eingelassen. Die damals durchaus populäre Forderung nach Verstaatlichung des Großkapitals und einer staatlichen Wirtschaftslenkung wurde seitens der Gewerkschaften zurückgestellt. Dieser Kompromiss prägte die nachfolgende Ausbildung der Institutionen der Bonner Republik. Mehr noch: Bei dem Konflikt um das Betriebsverfassungsgesetz (1952) realisierten Gewerkschaften und linke Parteien, dass die kapitalistische Restauration vollzogen und der Kampf um eine Neuordnung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verloren war.

Das Betriebsverfassungsgesetz sah keine Vetorechte bei Arbeits- und Produktionsbedingungen vor, von einer gleichwertigen Position der Repräsentanten der Lohnabhängigen in der Unternehmensführung konnte keine Rede sein und auf die Vorstellungen einer überbetrieblichen Mitbestimmung oder Wirtschaftssteuerung musste vollständig verzichtet werden.

Vor dem Hintergrund der anlaufenden Nachkriegsprosperität, der Polarisierung in der Systemkonfrontation und einer wachsenden Akzeptanz der "goldenen Ketten" des Kapitalismus gelang es den Unternehmern und ihren Verbänden, den Klassenkompromiss schrittweise zu ihren Gunsten zu verschieben.

Auch von der Vorstellung einer expansiven Lohnpolitik, bei der sowohl eine Umverteilung der Kapitalgewinne als auch eine sozial gestaltete Produktionspolitik durchgesetzt werden sollte, mussten sich die Gewerkschaften verabschieden. Bis in die sechziger Jahre hinein wurde zwar an der Forderung nach Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien, an einer überbetrieblichen Mitbestimmung und einer aktiven Tarifpolitik festgehalten. Doch praktisch wurden neben Arbeitszeitverkürzungen vor allem Erweiterungen bei der sozialen Sicherung durchgesetzt.

Doch diese Gemeinschaft der sozialen Partner - oder im Slang der amerikanischen Sozialwissenschaftler: das Stakeholder Modell - wird seit Ende der siebziger Jahre durch die Vermögensbesitzer bzw. die Herrschaft der Finanzmärkte aufgemischt. Die Liberalisierung der weltweiten Kapitalmärkte war eine politische Entscheidung. Die Rückkehr zum Laissez-Faire Kapitalismus war kein ökonomischer Sachzwang. Selbst ein Ur-Sozialdemokrat wie der frühere Parteichef Oskar Lafontaine spricht von einer Revolution: "Das Geld wurde international nicht mehr getauscht, um den Warenverkehr oder die Investitionen zu finanzieren, sondern um kurzfristig Gewinne zu machen." Und auch der neoliberale Vordenker Norbert Walter von der Deutschen Bank spricht von einer schleichenden Revolution: "Die spektakuläre Umstülpung der Machtverhältnisse ist teils das gewollte, teils aber auch das unbeabsichtigte Resultat vieler Einzelentscheidungen, die nach und nach zu völlig neuen internationalen Finanzmärkten geführt haben."

Die Existenz weitgehend unregulierter internationaler Geld- und Kapitalmärkte in den siebziger und achtziger Jahren wird mehr und mehr zum entscheidenden Argument, um auch im nationalen Rahmen die Regulierungen abzubauen und die nationalen Steuersätze stark zu reduzieren.

Über die Konsequenzen dieser von den USA ausgehenden Verallgemeinerung des Modells vom Aktionärskapitalismus herrscht weitgehende Einigkeit. Durch den in den vergangenen Jahren stark vordrängenden Gedanken des Shareholder value gerät die deutsche Mitbestimmung und das bundesdeutsche Konsensmodell in die Defensive. Das Wettrennen um die Steigerung der Eigenkapitalrendite und die Aktienkurse beschränken in letzter Konsequenz den Handlungsrahmen des Realkapitals. Eigenkapitalrenditen von 15 bis 20 Prozent, wie beispielsweise von Mannesmann-Chef Esser gefordert und durchgesetzt, bringen das gewohnte Gefüge der "Leistungsgerechtigkeit" und gesellschaftliche Loyalitäten durcheinander.

Mit dem wachsenden Gewicht von institutionellen Anlegern, d.h. Fonds aller Couleur, wird die Politik der Optimierung von Vermögenstiteln auch auf alle Rentenpapiere ausgedehnt. Die Übertragung des angelsächsischen Vorbildes ist aus dem Blickwinkel privater und institutioneller Vermögensbesitzer daher nur noch eine Frage der Zeit.