God Save Our Career

Ian McEwan schockt nicht mehr. In "Amsterdam" rechnet der britische Autor mit dem Kulturbetrieb ab.

Auf einem Friedhof treffen sich ein paar Männer, sie erzählen sich Geschichten über ihre gemeinsame Freundin Molly. Nicht eben die besten, wie sich herausstellt. Ihr letzter Mann sei ein Versager und mit dem britischen Außenminister habe sie eine zweifelhafte Affäre gehabt. Die "arme Molly" starb, Mitte 40, an Alzheimer. Kein Grund, sie und ihre Freunde zu schonen. Eines steht aber fest: So wie Molly starb, wollen sie nicht enden. Deshalb schließen zwei ihrer ehemaligen Liebhaber, Clive und Vernon, einen Pakt: Sollte einer von ihnen den Verstand verlieren, muss der andere den vorzeitigen Tod des Freundes herbeiführen.

Wann jemand den Verstand verliert, ist schwer zu sagen. Genie und Wahnsinn liegen eng beieinander. Und Genies sind sie mindestens, so viel ist sicher. Der eine, Clive Linley, ist ein angesehener Komponist, er vergleicht sich gerne mit Beethoven. Gerade hat er keinen geringeren Auftrag bekommen als die Komposition der offiziellen Millenniums-Sinfonie. Der andere, Vernon Halliday, arbeitet als Chefredakteur der angeschlagenen Tageszeitung Judge gerade daran, deren Auflage wieder in die Höhe zu treiben. Mit seinen Aufmachern will er künftige Journalistengenerationen beeinflussen.

Früher haben beide Männer für ihre Ideale gekämpft, heute sind sie mit ihrer Biografie beschäftigt. Um seine Zeitung zu retten, ist Vernon jedes Mittel recht: "Wenn wir dieses Blatt vor dem Untergang bewahren wollen, müßt ihr euch alle die Hände schmutzig machen." Die Fotos, die Molly einst von Außenminister Julian Garmony gemacht hat, kommen Vernon da gerade recht: der Außenminister in Frauenkleidern.

Clive allerdings kritisiert diese Strategie heftig; er ist der Ansicht, Vernon verrate damit nicht nur Molly, sondern auch die eigenen Überzeugungen. Vor ein paar Jahren habe er sich noch für Schwule eingesetzt und für "Schwachköpfe", die sich Nägel durch den Penis trieben. Garmony sei zwar ein Mann mit "fremdenfeindlichen und extremen strafrechtlichen Ansichten" und dürfe auf keinen Fall Premierminister werden, aber die Mittel, mit denen Vernon seinen Sturz betreibe, erscheinen ihm nicht angemessen. Vernon dagegen wirft seinem Freund vor, auf seine alten Tage bequem und konservativ geworden zu sein. Die beiden Freunde gehen von nun an getrennte Wege.

"Meinungsverschiedenheiten austragen und doch Freunde bleiben", lässt Ian McEwan den Außenminister an einer Stelle sagen, sei "die Quintessenz zivilisierten Lebens." Dieses scheinbar zivilisierte Leben zu zerstören, hat sich der Autor zur Aufgabe gemacht. In "Amsterdam" geht es um Männerbünde, um Freundschaften und Feindschaften. Eifersucht, Hass und Ehrgeiz treiben diese Männer an, die einer Generation angehören, die früher Love and Peace propagierte. Den "Marsch durch die Institutionen" haben sie für ihr eigenes Fortkommen genutzt. Mit Zynismus blickt McEwan auf seine Altersgenossen. Die dankten ihm diese Abrechnung und verliehen ihm für "Amsterdam" den Booker-Preis, die höchste britische Literaturauszeichnung.

Mit dem Todes-Pakt der beiden Männer ködert McEwan seine Leser, entwickelt zwei unterschiedliche Handlungsstränge, die zunächst ins Leere zu laufen scheinen. Clive arbeitet wie besessen an dem Schlussakkord seiner Sinfonie, die in Amsterdam uraufgeführt werden soll. Abseits des Getriebes, auf dem Land, sucht er nach Ruhe und Inspiration. Endlich hat er eine Melodie im Kopf; jetzt muss er sie nur noch aufschreiben. Etwas kommt ihm dazwischen: ein Verbrechen, das ihn aber nicht allzu sehr beunruhigt. Ein Frauenmörder treibt im Lake District wieder sein Unwesen. Aber Clive lässt sich in dieser Situation von seinem Vorhaben, den Schlussakkord zu Papier zu bringen, nicht abhalten.

Vernon zieht unterdessen im Judge die Kampagne gegen den Außenminister durch und bereitet deren Höhepunkt vor. Alle sind ganz versessen auf diese Story, und Vernon hat die alles entscheidenden Bilder. Dummerweise zeigt Garmonys Frau einen Tag vor der geplanten Veröffentlichung im Judge die Fotos im Fernsehen. Das ist das Ende von Vernons Karriere. Bei seinem Sturz in den Abgrund will er aber einen mitreißen: Hatte ihm Clive nicht vor einigen Tagen erzählt, dass er im Lake District gewesen ist? Und hat er da nicht ein Verbrechen beobachtet? Vernon zeigt seinen alten Freund wegen unterlassener Hilfeleistung an.

Natürlich weiß Clive sofort, wem er die Anzeige zu verdanken hat: Vernon muss komplett wahnsinnig geworden sein. Ähnlich denkt Vernon über Clive, als er in Amsterdam dessen Millenniums-Sinfonie hört. Wie praktisch, dass in den Niederlanden Euthanasie so einfach ist. Der Nachweis geistigen Verfalls genügt, um jemanden aus dem Weg zu schaffen. Und wie sich das für einen richtigen Showdown gehört, wird beiden Männern gleichzeitig die Giftspritze verabreicht.

McEwan holt mit "Amsterdam" zu einem Rundumschlag gegen Medien und Kulturbetrieb aus und muss sich dabei notwendigerweise selbst treffen. Kaum ein anderer Autor verkauft sich in Großbritannien so gut wie Ian McEwan. Seine Schilderungen abseitiger Sexualität und erotischer Obsessionen - Pädophilie, Inzest, Kastration und Leichenschändung - erregten die Aufmerksamkeit des Publikums und machten Ian McEwan Mitte der Siebziger zum Shooting-Star unter den britischen Autoren. Jedes Buch war ein Skandal. Nicht nur wegen der schockierenden Themen, sondern auch wegen des Kontrasts zwischen der Brutalität der Handlung und ihrer emotionslosen Darstellung. Gleichgültig wird in "Erste Liebe, erste Riten" der Mord eines Jugendlichen an einem Mädchen aus der Sicht des Täters beschrieben, und in "Ein Zementgarten" wird die tote Mutter in den großen Ferien einfach im Keller vergraben. Bei McEwan ist das Entsetzliche das Alltägliche.

Die nüchtern-distanzierte Beschreibung der Alltagspathologien prägte seine bisherigen Bücher. Zynismus und Satire lagen ihm bisher fern. Mit "Amsterdam" will der Autor bissig sein und die Mitstreiter seiner Generation, die "prosperiert hatten unter einer Regierung, die sie beinahe siebzehn Jahre lang verachtet hatten", demontieren. Sein Angriff auf die britische Society dürfte aber eher belustigen und bestätigen denn verletzen.

Dabei hat sich der Autor erkennbar Mühe gegeben, die Geschichten so überzogen wie möglich darzustellen. Beim Judge plant man beispielsweise eine achtseitige Schachbeilage, damit auch dem Dümmsten auffällt: Das ist nicht ganz ernst gemeint. Machtkämpfe eitler Männer und Schlammschlachten in einer Zeitungsredaktion hat selbst Hellmuth Karasek präziser beschrieben.

Ian McEwan: Amsterdam. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Diogenes, Zürich 1999, 212 S., DM 36,90