Treffen in Tanger

"The biggest step in my career will be my death", hatte Paul Bowles schon vor Jahren gewusst. Nach seinem Tod ist der Filmemacher Frieder Schlaich noch einmal nach Marokko gefahren.

Um 17 Uhr legt unsere Fähre aus Algeciras im Hafen von Tanger an. Es ist sehr windig, wie fast immer zwischen den beiden Kontinenten. Tanger macht schon vom Schiff aus einen aufgeräumteren Eindruck als sonst. Sollte man etwa schon den Auftrieb spüren, den die Stadt durch den jungen König Mohammed VI. erfährt? Er war gerade für fünf Tage zu Besuch in Tanger, eine Sensation, nachdem sein Vater immer einen großen Bogen um die Stadt der Schmuggler gemacht hat.

Seit acht Jahren komme ich immer wieder nach Tanger. Die Reisen hatten immer etwas mit Paul Bowles zu tun, ich habe drei seiner Kurzgeschichten verfilmt. Auch jetzt ist er Anlass unserer Tanger-Fahrt, aber diesmal kommen wir zu spät, Paul Bowles ist am 18. November, drei Tage zuvor, gestorben.

Mein Freund Karim Debbagh begleitet mich. Er ging noch zur Schule, als wir uns am Strand von Merkala trafen. Er hatte immer ein Buch dabei und lernte Englisch, und so war seine Neugier auf den amerikanischen Schriftsteller, der bei ihm um die Ecke wohnte, groß. Schnell machte sich der Junge, der aus einfachen Verhältnissen stammt, bei unseren Dreharbeiten und dann auch bei Paul Bowles unentbehrlich.

Bowles war immer neugierig auf Geschichten von der Straße, Karim konnte ihm fast jeden Wunsch erfüllen, gelegentlich brachte er zu Bowles eine Schlange mit, oder er organisierte ein Jilala-Konzert für ihn. Und Karim lernte nicht nur Englisch, für ihn tat sich eine verborgene Welt der Reichen und Verrückten, die bei Paul Bowles ein- und ausgingen, auf. Bowles war nicht besonders glücklich, als Karim vor zwei Jahren nach Deutschland ging, aber er verstand es. Karim studiert heute an der Filmakademie in Ludwigsburg.

Wir verlassen in der Abenddämmerung in einem petit taxi das Hafengelände, die Straßen sind noch beflaggt vom Königsbesuch. Die steile Einbahnstraße zum Grand Socco ist voll von Menschen, auf den Gehwegen verkaufen Straßenhändler alles, was noch einen Dirham wert sein könnte. Am Grand Socco sind die Eingänge zur Medina, es gibt es hier noch ein paar marode Kolonialbauten und das riesige Cinéma Rif, das schon immer indische Filme spielte. Auf dem Weg zu Karims Elternhaus im Stadtteil Dradeb kommen wir am italienischen Krankenhaus vorbei. Hier lag Paul Bowles elf Tage, bevor er starb.

"Die Geschichte von Lahcen und Idir" war 1991 der Grund für meine erste Tanger-Reise. Paul Bowles erzählt darin die Geschichte einer Freundschaft zweier Marokkaner. Der eine trinkt, der andere raucht Kif, Bowles' Sympathien waren eindeutig. "Jede Episode der Erzählung hat sich so auch wirklich zugetragen, allerdings mit ganz verschiedenen Leuten. Das ergibt insgesamt eine größere Wahrheit als die Geschichte eines Einzelnen." Mit diesen Worten führt Paul Bowles in dem viel später aufgenommenen Klammerteil in den bereits fertigen ersten Teil der Trilogie ein. Die genauen Beobachtungen und der Realismus hatten mich fasziniert, über den Autor selbst wusste ich damals nicht viel.

1991, auf dem Weg nach Tanger, las ich seine Autobiografie "Rastlos", danach war er mir eher unsympathisch. Und ich war gewarnt, ihn zu besuchen: Im Nachwort von "Rastlos" schreibt Pociao von der Neugier der vielen durchreisenden Journalisten, Filmemacher und literarischen Liebhaber, die dem fast 80jährigen die verbliebene Zeit stehlen. Ich musste ihn trotzdem treffen, wegen der Filmrechte.

Es war mein erster Tag in Tanger, ich war am Abend zuvor angekommen und hatte eine schlaflose Nacht in einer Pension am Hafen verbracht. Ein Taxifahrer half mir, Bowles zu treffen. Er komme jeden Nachmittag gegen vier Uhr auf den Markt an der Rue de Fes. Auch wenn ich meine Zweifel hatte, ließ ich mich von ihm dort hinbringen. Ein wunderschöner marokkanischer Markt auf einem kleinen Platz mit einem Brunnen in der Mitte, rundherum Blumen- und viele Tierhändler. Es dauerte keine halbe Stunde, da sah ich einen alten weißhaarigen Mann langsam durch eine der Gassen auf mich zukommen. Er stützte sich auf seinen Stock und nahm sich viel Zeit für die Blumen. Seine europäischen Begleiter schienen ungeduldig, aber Bowles ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Das war der Moment, ihn anzusprechen, es fiel mir nicht leicht, aber er war sehr freundlich, und ich hatte einen Termin für den nächsten Tag.

Jetzt, ein paar Tage nach seinem Tod, gehe ich noch mal die Treppen zu seinem Appartement im Immeuble Itesa hoch. Ich will die Wohnungstür fotografieren, die für mich wie ein Symbol ist. Es war schon eine sehr besondere Tür in der Zeit von E-Mail und Internet. Täglich reisten Leute wie ich aus aller Welt an, kamen in diese abgelegene Stadt zu dem noch abgelegeneren Mietshaus und standen dann vor dieser Tür mit dem kleinen Namensschild "Paul Bowles". Die Klingel tat es nie, man wusste nicht, ob jemand da war, und ich wette, alle zögerten einen Moment lang, bis sie dann anklopften. Manchmal, wenn Abdelwahab Boulaich nicht da war, dauerte es fünf Minuten, bis man ein Geräusch hörte, dann noch mal so lange, bis sich die Tür einen Spalt weit öffnete und ein freundliches "Come in" zu hören war.

Seit heute wird die Tür von außen bewacht. Auf Anordnung Joe McPhillips, dem Leiter der amerikanischen Schule in Tanger, darf niemand in die Wohnung. Die Angst ist groß, dass Bücher oder Dinge verschwinden. Nicht einmal Abdelwahab, der 30 Jahre lang in der Wohnung gearbeitet hat, kann hinein. Der Wachmann stellt sich auf einen längeren Job ein, gerade als ich fotografiere, bringt ihm jemand einen bequemen Stuhl vorbei. Bis zu sechs Monate soll es dauern bis die kleine Wohnung aufgelöst ist. Paul hatte zwar alles genau festgelegt, trotzdem scheint es kompliziert.

Genauso ist es mit seinem Sarg, der nach New York ausgeflogen werden soll und nach einer Woche immer noch in Casablanca ist. Ich bin mir sicher, das hätte Paul mit seinem Galgenhumor gefallen. Er hatte keine Angst vor dem Tod, aber er lebte einfach zu gerne, als dass er schon früher gegangen wäre. "The biggest step in my career will be my death", hat er mir vor Jahren gesagt.

Im September 1995 war Paul Bowles noch einmal in New York gewesen, und diese Reise muss ihn mit Genugtuung erfüllt haben. Drei Tage lang standen seine musikalischen Kompositionen im Lincoln Center auf dem Programm. Das EOS-Ensemble unter der Leitung von Jonathan Sheffer und das New Yorker Publikum feierten seine vor 50 Jahren komponierten Orchestersuiten, Bühnenmusiken und seine surrealistische Kurzoper. So ungern er auch in die für ihn viel zu hektische Stadt New York zurückkam, so wichtig war ihm diese Anerkennung als Musiker.

Er hat immer komponiert, mit den Fingern am Kopf den Takt klopfend, und, wie Abdelwahab erzählt, auch noch in den letzten Tagen im Krankenhaus. Kleine Kompositionen für Theateraufführungen an der amerikanischen Schule, Filmmusik für einen Kurzfilm. Mit seinem musikalischen Werk beschäftigt sich auch der versöhnliche Nachruf der großen marokkanischen Tageszeitung Tihad Schtiraki vom 24. November. Neben den Übersetzungen von Autoren wie Mohammed Mrabet und Mohammed Choukri werden seine Aufzeichnung und Archivierung traditioneller marokkanischer Musik gewürdigt. Das war nicht immer so in der marokkanischen Presse.

Am 18. November war Paul nur kurz bei Bewusstsein und hat sich auf Spanisch bei Abdelwahab und seiner Haushälterin Souad verabschiedet, dann hat er nur wenige Minuten und ohne Schmerzen mit dem Tode gerungen.

Ein offizielles Memorial für Paul Bowles ist für den 17. Dezember in der American Legation in Tanger geplant. Am letzten Tag meines Aufenthaltes, fast eine Woche nach Pauls Tod, gibt es eine kleine Erinnerungsfeier bei der Übersetzerin Claude Thomas. Sie wohnt in dem am schönsten gelegenen Haus von ganz Tanger, auf einem Felsen mit Blick über die Straße von Gibraltar, umgeben von riesigen Eukalyptusbäumen. Zwei Jilala-Musiker spielen für die wenigen Gäste, enge Freunde von Paul, wie der junge Schriftsteller Rodrigo Rey Rosa aus Guatemala, sein literarischer Erbe. Karim und ich müssen die Feier vorzeitig verlassen, um unser Schiff zu erreichen. Die letzte Fähre nach Algeciras verlässt Tanger um 21.30 Uhr.

Im Laufe des nächsten Jahres erscheint Virginia Carrs Biografie von Paul Bowles.

Frieder Schlaich hat 1993/94 die Bowles-Geschichten "Am Strand von Merkala" und "Allal" für das Kino adaptiert. Beide Kurzfilme wurden später in den gemeinsam mit Irene von Alberti inszenierten Spielfilm "Paul Bowles - Halbmond" integriert, der 1995 den Spielfilmpreis der deutschen Filmkritik erhielt. "Halbmond" ist auf Video erhältlich und wird Ende Dezember auf 3Sat gezeigt. Im Januar läuft Schlaichs neuer Spielfilm "Otomo" an.