Die Entdeckung der Langsamkeit

30 Jahre und ein bisschen mehr: Wenn bis zur nächsten Bundestagswahl ein Atomkraftwerk abgeschaltet wird, stimmt die Grünen-Basis jedem Ausstiegs-Modell zu.

Die hessischen Delegierten wussten es dem bekanntesten Mitglied ihres Landesverbandes zu danken. Mit großer Mehrheit stimmte der am Wochenende in Fulda zusammengekommene Parteitag der hessischen Grünen für den Vorschlag von Joseph Fischer, die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke bei 30 Jahren festzusetzen. Realos unter sich: In Hessen, wo der heutige Außenminister vor bald 20 Jahren damit begann, die Grünen auf realpolitischen Kurs zu trimmen, weiß man eben, was man an Fischer hat.

So schmetterten die Delegierten nicht nur einen Antrag der so genannten Parteilinken nieder, der vorsah, die Gesamtlaufzeiten deutscher Reaktoren auf maximal 25 Jahre zu beschränken. Ihr Votum für einen langsamen Ausstieg aus der Atom-Energie verbanden sie mit dem Abschied von einem weiteren grünen Essential: Die über zwei Jahrzehnte hochgehaltene Trennung von Amt und Mandat gilt zwischen Darmstadt und Kassel künftig nicht mehr. Wer bei den Grünen etwas werden will - von Fischer lernen, heißt siegen lernen -, sollte es vielleicht in Hessen versuchen. Oder abwarten, bis die Gesamtpartei nachzieht. Es wäre nicht das erste Mal, dass der hessische Landesverband die Nase vorn hat: Schon der bundesweit erste Minister mit grünem Parteibuch regierte in Hessen.

In Fulda zeigte sich, wie der in der Woche zuvor von Grünen-Funktionären landauf, landab prophezeite Aufstand der Basis gegen das Modell des langsamen Ausstiegs, das Fischer und Umweltminister Jürgen Trittin der Partei verordnet haben, aussieht: legalistisch. Ein Ausstiegsgesetz, so die Forderung der hessischen Delegierten, müsse in erster Linie vor Gericht Bestand haben.

So sieht das auch der energiepolitische Sprecher der schleswig-holsteinischen Grünen, Detlef Matthiessen: »Das Ausstiegsgesetz muss wasserfest formuliert sein, sonst wird es vom Bundesverfassungsgericht kassiert. Wenn wir eine Laufzeit von 30 Jahren durchsetzen können, haben wir eine historische Chance genutzt.« Die eigens nach Fulda gereiste Partei-Chefin Gunda Röstel sekundierte: Die von Trittins Staatssekretären erarbeiteten Pläne für ein Ausstiegsgesetz könnten von der Basis nicht ignoriert werden - selbst wenn in dieser Legislaturperiode kein Atomkraftwerk abgeschaltet werde. Regieren geht über intervenieren: »Wenn wir ein unberechenbarer Haufen werden sollten, gefährden wir das Gesamtprojekt.«

Diese Meinung teilten auch die ebenfalls am Wochenende tagenden Delegierten in Koblenz. Mit einem Unterschied: Für die rheinland-pfälzischen Grünen soll schon fünf Jahre früher Schluss sein mit aus Atomstrom gespeisten Haushalten. 25 Jahre und nicht mehr, lautet nun die Maximalforderung von der Grünen-Basis.

Mit der Minderung der Risiken freilich, die die Atomkraft auch in diesen Jahren mit sich bringen wird, hat das natürlich nichts zu tun. Den Grund, weshalb manche Grüne auf den etwas weniger langsamen Ausstieg aus der Atomkraft setzten, lieferte am Wochenende Winfried Hermann, grüner Bundestags-Abgeordneter: »Wenn ich 30 Jahre sage, habe ich bis 2003 null Abschaltungen. Wir brauchen einen glaubwürdigen Einstieg in den Ausstieg - und zwar vor der nächsten Bundestagswahl.« Alles eine Frage der Glaubwürdigkeit also: Es dürfte selten leichter gewesen sein, sich in dieser Partei als Linker zu bezeichnen - und nur noch eine Frage der Zeit, bis die Forderung nach einem Sofort-Ausstieg zu Ausschluss-Verfahren führen.

Der nach dem Fischer/Trittin-Vorstoß losgetretene Streit darüber jedenfalls, ob die Restlaufzeiten der deutschen Atom-Meiler nun auf 30 Jahre plus X oder minus X festgeschrieben werden sollen, entlarvt sich so selbst: als Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme für die Grünen-Bundestagsfraktion. Nachdem die Abgeordneten ihre Arbeit im ersten Regierungsjahr weitgehend darauf beschränkt hatten, der Regierung nicht in die Quere zu kommen,hatten sie jetzt die Chance, sich ein bisschen von ihren Ministern zu emanzipieren.

Die Fraktionsvorsitzende Kerstin Müller setzte sich an die Spitze der Bewegung, die Endlaufzeiten von »deutlich unter 30 Kalenderjahren« fordert. Gemeinsam mit 19 weiteren Parlamentariern unterzeichnete sie einen Antrag, der für die Wähler-freundliche Variante des Ausstiegs plädiert: Unter allen Umständen müssten noch vor 2002 die ersten Reaktoren stillgelegt werden, forderte sie. Darüber hinaus müsste eine neue Verhandlungsrunde mit Bundeskanzler Gerhard Schröder einberufen werden, um die Fischer/Trittin-Vorschläge zurückzunehmen. Fischer nahm den Vorschlag der Fraktions-Minderheit an: »Nur müsst ihr dann auch die Verhandlungen übernehmen. Aber kommt mir hinterher nicht mit 30 Jahren wieder«, zitierten ihn Fraktions-Mitglieder nach der Sitzung am vergangenen Freitag. Ansonsten brachte die Beratung den Grünen-üblichen Kompromiss: Ein Beschluss wurde nicht gefasst, Ende dieser Woche soll erneut über die beiden Ausstiegs-Varianten diskutiert werden.

Den Grünen in Hessen dürfte das egal sein. Schließlich könnte ihnen ihr Votum für den langsamen Ausstieg noch am schnellsten nutzen. Der Reaktor im hessischen Biblis A, der gerade sein 25jähriges Jubiläum feierte, steht ganz oben auf der Abstell-Liste der deutschen Energie-Konzerne - und läuft ohnehin nur noch auf Gnaden von Jürgen Trittin. Da der Reaktor lediglich als Folge bundesaufsichtlicher Weisungen von Trittins Amtsvorgängerin Angela Merkel (CDU) am Netz ist, genügte die Weigerung des Umweltministers, die Genehmigung zu verlängern, um den Meiler abzuschalten. Vielleicht bezieht das der Minister als Dank an die hessischen Delegierten bei seiner nächsten Entscheidung mit ein.

Vielleicht aber ist das gar nicht mehr nötig: Nach Informationen der Berliner Zeitung sollen die Vorstandschefs der Energie-Konzerne Veba, Viag und RWE angeboten haben, bis 2002 vier Atomkraftwerke abzuschalten - darunter auch Biblis A. Im Gegenzug soll die Regierung statt fester Restlaufzeiten eine Atomstrommenge von 2500 Terawattstunden zugestehen - was einer Gesamtlaufzeit von 32,5 Jahren pro Meiler entspricht. Da kann kein Grüner Nein sagen.