Jugendjahre des Faschismus

Zeev Sternhells Studie zur Entstehung der faschistischen Ideologie in Deutschland, Frankreich und Italien ist ein wichtiger Beitrag zur vergleichenden Faschismusforschung. Doch die These von der antimarxistischen Revision greift zu kurz.

Viel zu stark hat sich die deutsche Linke in den letzten Jahren bei der Analyse des Faschismus und Nationalsozialismus auf Deutschland konzentriert. Differenzen und Gemeinsamkeiten zu und mit anderen europäischen Faschismen gerieten so aus dem Blick. Die gewissermaßen deutschnational bornierte Sicht blendete alle Ansätze einer Diskussion mit Linken aus anderen europäischen Ländern aus, die sich höchstens darüber wundern konnten, dass die gesamten faschistischen Bewegungen und Regimes der (Zwischen-) Kriegszeit nach deutschem Muster interpretiert werden sollten. Das Wesensmerkmal des Nationalsozialismus, sein eliminatorischer Antisemitismus, wurde auf andere Länder übertragen, im Extremfall war es sogar gleichgültig, ob diese selbst ein faschistisches Regime hatten, ob diese aus eigenem Antrieb oder unter deutscher Besatzung eine antisemitische Politik betrieben hatten.

Die bereits 1989 in Frankreich und nun in der Hamburger Edition auf Deutsch erschienene Studie »Die Geburt der faschistischen Ideologie« von Zeev Sternhell, Mario Sznajder und Maia Asheri könnte diesem Defizit der deutschen Faschismusanalyse abhelfen. Zeev Sternhell und seine Co-Autoren wenden sich einer einzigen Frage zu: Woher kommt die faschistische Ideologie? Sie wollen »die wahre Bedeutung der Ideologie für die Ausbreitung des Faschismus nachweisen, jenes politischen und kulturellen Phänomens, das sich geistig stets als völlig autonom erwies«. Ihre Antwort auf die Frage nach der Herkunft der faschistischen Ideologie: Die faschistische Ideologie resultiert aus einer besonderen Variante des marxistischen Revisionismus. Sternhell betont, dass diese Revision des Marxismus nichts mehr mit dem Marxismus selbst gemein hat, sondern zu einer eigenständigen Ideologie geworden ist, die ihre Energie aus der Abgrenzung zum Marxismus erfährt.

Der Faschismus ist damit keine bloße Weiterentwicklung des Marxismus oder seine Konsequenz, sondern beruht auf einer antimaterialistischen Revision, die die Aufklärung durch den Mythos ersetzt hat. Nach Sternhell stellt der Faschismus damit eine der möglichen Antworten auf die Krise des traditionellen Marxismus Ende des 19. Jahrhunderts dar. Der originäre Revisionismus eines Eduard Bernstein und Karl Kautsky, der das Paradigma der Revolution durch die sozialdemokratische Reform ersetzt, war eine andere Möglichkeit, die sich zunehmend innerhalb der Arbeiterbewegung in Westeuropa etablierte. In Mittel- und Osteuropa setzte sich die Erneuerung des klassischen Marxismus durch den Bolschewismus nach Luxemburgschem oder Leninschem Muster durch.

In Italien und Frankreich dagegen wurde von verschiedenen Marxisten das Ziel der Revolution nicht aufgegeben oder durch die Diktatur der Partei ersetzt. Hier wurde der Materialismus und mit ihm die rationalistische, individualistische und utilitaristische, auf dem Weltbild der Aufklärung beruhende Weltsicht durch den nationalen Mythos ersetzt. Ausführlich beschäftigt sich Sternhell mit der Entwicklung Georges Sorels, dem wichtigsten Vertreter dieser revisionistischen Variante, und seinen Nachahmern und politischen Zeitgenossen, die an die Stelle der Klasse die Nation, an die Stelle des Proletariats den produktiven Produzenten setzten.

Der Marxismus wird von ihnen »als eine Art Gefäß betrachtet, das man seines ursprünglichen Inhalts entleeren und mit einer ganz anderen Substanz füllen« konnte. Der Fortschritt hängt bei Theoretikern wie Sorel, Gustave Le Bon, Robert Michels, Vilfredo Pareto, Arturo Labriola, Hendrik de Man und ihren (prä-)faschistischen Rezipienten von der Entfaltung der Marktwirtschaft ab, diese soll aber ohne Demokratie und Liberalismus produktiver gestaltet und mit einem Kult des Heroismus, Vitalismus und der Gewalt und außerdem mit dem Nationalismus verschmolzen werden.

Voraussetzung dafür war die antimarxistische Definition der Ausbeutung, die plötzlich ethisch und nicht mehr ökonomisch begründet sein sollte. Die Lösung der sozialen Probleme lag für den Faschismus somit in der Psychologie, er betrieb gewissermaßen eine vor-postmoderne Politik der Anerkennung: Die alte sozialistische Forderung nach sozialer Gleichheit kann aufgegeben werden, wenn sich die Gleichheit, die wirklich zählt, nicht in der Ökonomie, sondern in der Kultur vollzieht. Die ideologische Voraussetzung für diese Operation ist die vorausgesetzte »organische Einheit der Nation«.

»Wird der Rationalismus abgelehnt«, so schlussfolgert Sternhell, »stehen dem Faschismus Tür und Tor offen. Wenn der Antirationalismus zu einem politischen Werkzeug, zu einem Mittel für die Mobilisierung der Massen und zu einer Waffe gegen den Liberalismus, den Marxismus und die Demokratie, wenn er mit einem starken Kulturpessimismus, einem ausgeprägten Kult der Gewalt und der aktivistischen Eliten einhergeht, dann führt er zwangsläufig zu faschistischem Denken.«

Diese faschistische Synthese ist allerdings etwas anderes als die von Sternhell und seinen Co-Autoren behauptete »Verschmelzung von Sozialismus und Nationalismus«. Insgesamt neigen die Autoren dazu, die Erklärungskraft ihres Ansatzes zu überstrapazieren. Sie analysieren eben nicht, wie es der Titel des Buches suggeriert, »die Geburt der faschistischen Ideologie«, sondern lediglich die Frühphase des französischen und italienischen Faschismus. Sternhell betont selbst, dass der deutsche Faschismus, insbesondere der Nationalsozialismus, nicht aus dem revolutionären Syndikalismus entstand, sondern aus dem biologistischen Weltbild des Antisemitismus und Rassismus. Der Anarcho-Syndikalismus spielte im Deutschland der Zwischenkriegszeit keine Rolle.

Entscheidend ist, dass auch der italienische und französische Faschismus sich direkt nach dem Ersten Weltkrieg endgültig, jedenfalls in seiner Hauptströmung, vom Syndikalismus und der Arbeiterbewegung verabschiedeten. Stattdessen suchte der Faschismus seine Bündnispartner und ideologischen Anknüpfungspunkte bei der konservativen nationalistischen Staatselite, im Soldatentum, bei monarchistisch-aristokratischen Strömungen, der Agrar- und Großindustrie, ja selbst in reaktionären Kreisen der Kirche.

Einmal an die Macht gelangt, fand sich in der praktischen Politik nicht die geringste Spur der vorgeblich revolutionär-syndikalistischen Wurzeln, weder in der Politik gegenüber der Arbeiterbewegung noch in der Sozialpolitik des italienischen Faschismus. Mussolini wusste sehr wohl, von wem seine Macht abhing - und für diese Kreise machte er Politik, bis er vom Großen Faschistischen Rat 1943 abgesetzt wurde. Es überzeugt deshalb nicht, wenn Sternhell von einem Kompromiss zwischen alten ideologischen Ursprüngen und praktischen Erfordernissen zum Zwecke der Machterhaltung spricht. Denn es gab einen solchen Kompromiss nicht; Mussolini betrieb schlicht eine imperialistisch-nationalistische Politik zum Nutzen der alten herrschenden Gruppen Italiens.

In Frankreich dagegen gelangte keine faschistische Regierung aus eigener Kraft an die Macht; die Frage nach der ideologischen Herkunft des Faschismus und seine Auswirkungen auf die praktisch betriebene Politik muss daher anders beantwortet werden. Sternhell macht es sich aber auch hier zu einfach. Die beiden faschistoiden Organisationen der Zwischenkriegszeit, die Action fran ç aise und die Croix de Feu, die 1937 immerhin 1,2 Millionen Mitglieder zählte, gelten ihm nicht als faschistisch, weil sie nicht an den revolutionären Syndikalismus, sondern an konservative Ideologien anschließen.

Authentischer Faschismus kann für Sternhell einfach nichts mit (radikalem) Konservatismus gemein haben. Scheitert diese These schon am italienischen und besonders am deutschen Beispiel, so überzeugt sie auch für Frankreich nicht. Eine Analyse der Ideologie Sorels sagt nichts über die Action fran ç aise oder die Vichy-Regierung aus, eben genau so wenig oder viel, wie Ernst Jünger uns über den Nationalsozialismus mitteilen kann.

Insgesamt sind die Ergebnisse der Studie dürftig: Der Faschismus gleich welcher Spielart war keineswegs, wie Sternhell meint, weder rechts noch links, sondern er ist eine rechte Ideologie und wird dies als politische Option der bürgerlichen Gesellschaft weiterhin bleiben. In allen Ländern konnte er nur in einer Krisensituation der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Versprechen, ihre Widersprüche aufzuheben oder sie mit Gewalt zu beseitigen, an die Macht gelangen. Der Faschismus als Praxis beruhte in Frankreich, Italien und Deutschland auf der Diktatur eines Führers oder einer kleinen Elite, einer hierarchischen, ständische Prinzipien reklamierende Gesellschaftsvorstellung, die organisch-nationalistisch verklausuliert wurde. Ihre Stützen waren das Militär und nicht die Arbeiter, die kapitalistische Klassenstruktur blieb, außer in der Rhetorik und Propaganda, unangetastet.

Zeev Sternhell/Mario Snajder/Maia Asheri: Die Enstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini. Aus dem Französischen von Cornelia Langendorf. Hamburger Edition, Hamburg 1999, 480 S., DM 68

Die Diskussion über die Thesen Zeev Sternhells wird in einer der nächsten Ausgaben fortgesetzt.