Projekt Ringeltaube

Im KZ Dachau und seinen Außenlagern starben zwischen Juni 1944 und April 1945 mehr als 15 000 jüdische Sklavenarbeiter. Entschädigen wollen die Unternehmen, die davon profitierten, nicht.

Das Warten hat sich gelohnt. Für rund 250 deutsche Unternehmen, die nicht in den Entschädigungs-Fonds einzahlen wollten, ist die Rechnung aufgegangen: Selbst die Porto-Kassen können geschlossen bleiben. Nachdem die Bundesregierung ihren Anteil am Fonds für NS-Zwangsarbeiter in letzter Minute aufgestockt hat, entfällt für die Firmen auch die letzte Verpflichtung einzuzahlen. Unter ihnen: ein Großteil der deutschen Bau-Unternehmen, die einst Millionen-Beträge durch Sklaven-Arbeit verdienten, ohne diese zu entschädigen.

Ein Beispiel für die blutigen Geschäfte der Baukonzerne ist das Rüstungsprojekt »Ringeltaube«, das die Nazis in den letzten Kriegsmonaten im oberbayerischen Landsberg am Lech aus dem Boden stampfen ließen. 30 000 jüdische KZ-Häftlingen - die meisten von ihnen wurden aus den Lagern Stutthof und Auschwitz nach Landsberg deportiert - leisteten hier Zwangsarbeit. Fast die Hälfte von ihnen kam dabei ums Leben. Namhafte Firmen der deutschen Bau-Industrie waren an dem Projekt beteiligt: Philipp Holzmann, Leonhard Moll, Held & Francke, Karl Stöhr, Dyckerhoff & Widmann.

Drei halb unterirdische Großbunker mussten die Häftlinge im Rahmen des Projektes »Ringeltaube« errichten. Darin sollte später das erste serienmäßig gefertigte Flugzeug mit Düsenantrieb - die Messerschmitt-Maschine Me 262 - hergestellt werden. Die Bauleitung des Projektes übernahm die Organisation Todt (O.T.), die dem Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion unterstellt war. Zunächst sollten Zwangsverpflichtete des italienischen Arbeitsdienstes für die Bauarbeiten eingesetzt werden. Angesichts des Vormarsches der Alliierten in Italien wurde daraus jedoch nichts. Die SS bot schließlich einen Ausweg: den Einsatz von Juden aus Osteuropa.

Am 18. Juni 1944 erreichte der erste Transport mit 1 000 Häftlingen aus Auschwitz den Bahnhof des damals noch kleinen Bauerndorfes Kaufering, wenige Kilometer nördlich von Landsberg gelegen. In der Folge entstand in der Umgebung der größte Außenlagerkomplex des Dritten Reiches: elf Konzentrationslager, die dem KZ Dachau angegliedert waren.

Meist gab es hier nicht einmal Baracken, sondern nur niedrige Erdbunker, in denen die Häftlinge untergebracht waren. Wer nicht mehr arbeitsfähig war, wurde nach Auschwitz zurücktransportiert oder zum Sterben in eines der Krankenlager gebracht. Gebaut wurden die Lager von der O.T., belegt und bewacht von der SS. Die Baufirmen forderten bei der SS je nach Tagesbedarf Häftlinge für ihre Baustellen an. 0,60 Reichsmark kostete ein Häftling pro Tag. Das Geld bekam die SS. Ein deutscher Facharbeiter hätte 0,90 Reichsmark gekostet. »Die Summen, die hier durch die Sklavenarbeit mit jüdischen KZ-Häftlingen eingespart bzw. verdient wurden, erreichten Millionenhöhe«, betont die Bürgervereinigung Landsberg im 20. Jahrhundert, die sich seit Jahren mit dem Projekt »Ringeltaube« befasst.

Besonders gefürchtet war das so genannte Moll-Kommando, die Bunker-Baustelle des Unternehmens Leonhard Moll. In zwei Schichten zu je zwölf Stunden schufteten die Zwangsarbeiter hier Tag und Nacht - etwa 700 bis 800 Menschen pro Schicht. Jehuda Garai war einer von ihnen. Er erinnert sich noch genau an seinen ersten Einsatz bei Moll: »Wir kamen in den dichten Wald, es war ganz dunkel, dann plötzlich ein Lichtermeer. Wir standen vor einer mächtigen, berghohen Eisenbetonkuppel. Aus dieser Kuppel ragten überall Eisenstangen. Sie sah so aus wie ein gigantischer Igel. Daneben eine große Grube aus Eisenbeton. Hier arbeiteten die Polen. Das war Moll, der Todeskessel. Es war nicht leicht, hier lebendig herauszukommen.«

Vorkehrungen für Arbeitssicherheit gab es kaum. Für die schlecht gekleideten, vollkommen entkräfteten Häftlinge - eine Ration Brot musste reichen für den ganzen Tag - bedeutete die Schwerstarbeit einen ständigen Kampf mit dem Tod. »Wir hatten keine Handschuhe und mussten zu zweit die kalten, gefrorenen, rostigen Eisenstangen schleppen. Unsere Hände entzündeten sich, platzten auf und taten weh. Die Haut hing in Fetzen herab und die bloße Berührung mit dem rostigen Eisen verursachte schreckliche Schmerzen«, berichtet Garai.

Besonders grausam war der Einsatz beim Zement-Kommando der Moll-Baustelle. Die meist 16 bis 18 Jahre alten Häftlinge mussten zwölf Stunden am Tag Zementsäcke schleppen: »Einer der Polen fiel hin. Der Sack riss auf, der Zement floss heraus. Der SS-Mann ist gerade schlechter Laune und beginnt ihn anzubrüllen, dass er sabotiert habe. Er wird abgeführt. Wahrscheinlich wird er aufgehängt. Aber das ist für den Armen eine Erlösung. Er schreit, dass er schon genug gelitten habe, er möchte doch wenigstens gleich totgeschlagen werden.«

Bis zuletzt wird auf den »Ringeltaube»-Baustellen gearbeitet. Auschwitz ist längst befreit, als rund um Landsberg die Vernichtung durch Arbeit noch auf Hochtouren läuft. Erst Ende April 1945 werden die Lager geräumt. Die noch lebenden Häftlinge werden in Todesmärschen Richtung Alpen getrieben, bis sie endlich von den Amerikanern befreit werden. Für 14 500 von ihnen kommt jede Rettung zu spät.

Bis heute haben die beteiligten Konzerne keinen Pfennig Entschädigung geleistet. Und das soll auch so bleiben. Am Entschädigungsfonds wollen sich die noch bestehenden Firmen vorerst nicht beteiligen. Beim inzwischen zum Walter-Konzern gehörenden Betonunternehmen Dyckerhoff & Widmann etwa weigert man sich, die NS-Geschichte des Unternehmens überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. »Wir wollen nichts hinterm Berg halten, aber wir haben wenig Akten aus dieser Zeit«, sagt Pressesprecher Peter Wurm. Dass das Dyckerhoff-Werk in Utting am Ammersee - Produktions-Stätte für Beton nicht nur während des Krieges, sondern auch in den 50 Jahren danach - einst von jüdischen Zwangsarbeitern errichtet wurde, wird von dem Unternehmen bis heute bestritten. »Dyckerhoff & Widmann (Dywidag) hat das Werk nach dem Krieg gekauft«, lautet die offizielle Lesart der Firma.

Dass Dywidag andernorts Zwangsarbeiter beschäftigt hat, räumt der Konzern inzwischen ein. In den Entschädigungs-Fonds einzahlen will man vorerst trotzdem nicht. Man befinde sich derzeit noch »in der Entscheidungsfindung«. Von den am Projekt »Ringeltaube« beteiligten Firmen hat bislang einzig die Philipp Holzmann AG erklärt, dass sie sich an dem Entschädigungsfonds beteiligen wird - schließlich betreibt der Konzern auch Baustellen in Übersee. Ob die Ankündigung angesichts der finanziellen Schwierigkeiten des Unternehmens auch umgesetzt wird, ist allerdings fraglich.