Von der Blutsnation zum Leistungsstaat

Zum 1. Januar trat das neue Staatsangehörigkeitsrecht in Kraft. Es sollte das nationale Selbstverständnis verändern. Doch die Revolution fiel aus.

Neues Jahr, neue Bürger: Seit dem 1. Januar 2000 ist das neue Staatsangehörigkeitsgesetz in Kraft. Zwar wurde die Regelung bereits im Mai 1999 mit Zustimmung des Bundesrates verabschiedet. Danach können in Deutschland geborene Kinder, deren ausländische Eltern bereits längere Zeit hier leben, die doppelte Staatsangehörigkeit erhalten. Doch in der Regel kommt bei der Einbürgerung nur ein Pass in Frage.

Die Regierungskoalition und ihr Innenminister Otto Schily (SPD) klopfen sich dafür seit Monaten auf die Schultern: Von der »überfälligen Modernisierung des völlig veralteten deutschen Staatsangehörigkeitsrechts« und einem nun endlich erreichten »realistischen Begriff der Nation« (Schily) ist die Rede, von einem »Integrationsangebot« und einer Chance für gesellschaftlichen Frieden. Für die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck (Grüne), ist die Reform ein Einschnitt in die bisherigen staatsbürgerlichen Regelungen aus der Kaiserzeit und ein »Bruch mit der Vorstellung, wer deutsch ist«.

Von einer »Revolution« des Staatsbürgerrechts - und damit des Kerns nationalen Selbstverständnisses -, wie vor allem die Grünen meinten, ist aber keine Spur zu sehen. Im Vergleich zu den bereits seit 1993 bestehenden alten Regelungen der Anspruchs- und der Ermessenseinbürgerung fallen die Änderungen des neuen Staatsangehörigkeitsrechts bescheiden aus.

Die Bürokraten-Falle

Der Anspruch auf Einbürgerung ist an Voraussetzungen gebunden: So darf der Antragsteller weder Sozial- noch Arbeitslosenhilfe beziehen, sowohl das polizeiliche Führungszeugnis als auch die Kenntnisse der deutschen Sprache müssen gut sein. Wer dann noch seit mindestens acht Jahren in Deutschland wohnt, braucht sich künftig nicht mehr als Ausländer bezeichnen zu lassen.

Ausländische Kinder, die zwischen Hamburg und München geboren wurden, erhalten in Zukunft automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft - so lange mindestens ein Elternteil die Voraussetzungen erfüllt. Darüber hinaus sollen Minderjährige die deutsche Staatsbürgerschaft beanspruchen können, wenn ein Elternteil über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügt und beide seit fünf Jahren in familiärer Gemeinschaft in Deutschland leben.

Eine Abkehr vom ius-sanguinis-Prinzip des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts freilich bedeutet das nicht: Weder bekommen, wie etwa in den USA, in Frankreich oder anderen europäischen Staaten, alle im Land geborenen Kinder von Ausländern automatisch die Staatsangehörigkeit, noch hat sich Rot-Grün zu einer Abkoppelung des Staatsangehörigkeitsrechts vom Ordnungsrecht durchringen können.

Deutschland wird weiterhin das einzige Einwanderungsland in Westeuropa bleiben, das die Möglichkeit der doppelten Staatsangehörigkeit im Regelfall ausschließt. Die bestehenden Verordnungen werden in diesem Punkt sogar noch verschärft. Und das, obwohl die Verwaltungs-Praxis der letzten Jahre doppelte Staatsangehörigkeiten bei Einbürgerungen immer öfter tolerierte.

Stattdessen schafft die Neuregelung für in Deutschland geborene Kinder neue Probleme. Kinder, die künftig mit der Geburt neben der deutschen noch eine weitere Nationalität erwerben, müssen sich zwischen dem 18. und dem 23. Lebensjahr für eine der beiden Staatsbürgerschaften entscheiden. Denen, die sich dann nicht entscheiden wollen, soll die deutsche Staatsangehörigkeit wieder entzogen werden.

Eingebürgerte Eltern der zweiten Einwanderergeneration bringen künftig zwar automatisch deutsche Kinder zur Welt. Sollte diesen nach Erreichen ihres 23. Lebensjahres die deutsche Staatsbürgerschaft aber wieder entzogen werden, blieben ihre in der Zwischenzeit geborenen Kinder weiterhin Deutsche von Geburt an - während sie selbst wieder zum »Ausländer« werden. Theoretisch könnten sie dann bei kriminellen Vergehen oder bei »selbstverschuldetem« Sozial- oder Arbeitslosenhilfebezug abgeschoben werden, während ihre statusdeutschen minderjährigen Kinder Abschiebeschutz genießen.

Genauso abstrus wie derartige Konstellationen ist aber, dass gesetzliche Verbesserungen gerade für die erste »Gastarbeitergeneration«, den über 30 Jahren hier Ansässigen, ausgefallen sind. Einbürgerungserleichterungen bringt das neue Gesetz nicht - außer einer für sie nicht relevanten Reduzierung der notwendigen Aufenthaltsdauer für die Anspruchseinbürgerung von 15 auf acht Jahre. Dafür sorgen die nun zwingend vorgeschriebenen Sprachtests und die Einbürgerungsvoraussetzungen der Straffreiheit, des Nichtbezugs von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe und die geforderte Verfassungstreue für durchgreifende Verschärfungen.

Entgegen der Ankündigung in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung hat es Bemühungen zu einer grundlegenden Revision des Ausländerrechts nicht gegeben. So gilt die Betätigung in einer politischen Migrantenorganisation weiterhin als Einbürgerungshindernis. Ausländer gelten so nach wie vor als potenzielle Gefährder von öffentlicher Sicherheit und Ordnung - und das Ausländerrecht als Teil des Polizei- und Ordnungsrechts.

Warum also die ganze Aufregung um die Reform? Die so genannte Revolution liegt kaum in der herabgesetzten Aufenthaltsdauer für die Einbürgerung, die angeblich den Kern des deutschen Nationenverständnisses sprengen soll und auch nicht in der Einführung von Geburtsort-Prinzipien. Mit einer Liberalisierung oder gar einem strikten ius soli - einem republikanischen Staatsbürgerrecht also, das nach den ursprünglichen rot-grünen Plänen von Anfang der neunziger Jahre eingeführt werden sollte - hat das alles wenig zu tun.

Geht es alleine nach der Aufenthaltszeit, so haben nun gerade einmal vier Millionen in Deutschland lebende Ausländer oder deren bereits in Deutschland geborene Kinder einen Anspruch auf Einbürgerung - rund eine Million mehr als nach der bis 1999 geltenden Rechtslage. Am Kern des nationalen Selbstverständnisses ändert sich damit natürlich nichts.

Du spreken deutsch?

Dann schon eher durch die im Dezember beschlossenen neuen Verwaltungs- und Ausführungsvorschriften zum neuen Staatsangehörigkeitsgesetz: Durchgesetzt haben sich bei den umstrittenen Regelungen der Einbürgerungspraxis - den Sprachtests, der Definition von »unverschuldetem Sozial- oder Arbeitslosenhilfebezug« und bei der Prüfung der Verfassungstreue - in weiten Teilen die Vorstellungen der von CDU und CSU regierten Bundesländer.

An die Sprachkenntnisse werden künftig höhere Anforderungen gestellt als unter dem bis 1999 geltenden Staatsangehörigkeitsrecht. Einbürgerungsbewerber müssen sich im »täglichen Leben« auf Deutsch verständigen können, einschließlich der Kontakte zu Behörden. Sie sollen einen Zeitungsartikel lesen und wiedergeben sowie ein ihrem Alter und Bildungsgrad entsprechendes Gespräch führen können. Geringere Anforderungen sind für Ehegatten von deutschen Staatsbürgern, für ausländische Kinder und ältere Menschen geplant. Allerdings: Am Ende bleibt es jedem Bundesland selbst überlassen, wie es die Sprachanforderungen testet. Bayern und Baden-Württemberg bestehen weiterhin auf einem Diktat, das von den Bewerbern um die deutsche Staatsbürgerschaft zu schreiben ist - ob der Diktierende seinerseits hochsprachliche Kenntnisse besitzen muss, bleibt allerdings unbestimmt.

Umstritten ist noch die Frage der Ermessenseinbürgerungen: Der Entwurf der Bundesregierung sieht vor, Einbürgerungen bereits nach sechs Jahren Aufenthaltsdauer auf Antrag zu ermöglichen. Bayern hingegen besteht in einem alternativen Entwurf auf mindestens acht Jahren.

Schafft eine, zwei, viele Staatsbürgerschaften!

Auch im Falle der Mehrstaatlichkeit bestehen Meinungsunterschiede. Bayern will von einbürgerungswilligen Ausländern verlangen, dass sie sich zwei Jahre lang um die Entlassung aus ihrer ursprünglichen Staatsbürgerschaft bemühen. Falls keine positive Reaktion erfolge, soll das Herkunftsland verklagt werden. Der Entwurf der Bundesregierung hingegen gibt sich mit einem halben Jahr zufrieden, sofern sich der Ausländer nachweislich um eine Ausbürgerung bemühte. Der bayerische Entwurf will schließlich auch hier Sprachkenntnisse und die Kenntnis der »freiheitlich demokratischen Grundordnung« als Einbürgerungs-Voraussetzung prüfen.

Am Beispiel der Verwaltungsregelungen des Landes Berlin kommt der Türkische Bund zu dem Ergebnis, dass sich durch die neuen Hürden die Einbürgerungen sogar reduzieren könnten. Bisher reichten hier einfache Deutsch-Kenntnisse aus. Künftig müssen Antragsteller entweder eine schulische oder universitäre Ausbildung in Deutschland nachweisen oder ein von den Volkshochschulen vergebenes »Zertifikat Deutsch« vorlegen.

Immer feste auf dem Boden der FdGO

Auch bei der Überprüfung der Verfassungstreue gibt es keine bundeseinheitlichen Vorgaben. Berlin will wie Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Thüringen Regelanfragen beim Verfassungsschutz durchführen. Da es weitgehend in der Willkür der Behörden liegt zu entscheiden, was im Falle eines Noch-Ausländers den Interessen der Bundesrepublik Deutschland widerspricht, kann so jedes Land nach eigenem Gusto entscheiden, ob politisch Engagierte eingebürgert werden - oder eben nicht.

Die gröbste Diskriminierung besteht jedoch hinsichtlich der Fähigkeit zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhaltes. Die bundeseinheitliche Verwaltungvorschrift definiert, wie die künftigen Musterdeutschen beschaffen sein sollen: »Der Einbürgerungsbewerber muss den eigenen und den Lebensunterhalt der Familie sowie etwaige gegen ihn gerichtete Unterhaltsansprüche nachhaltig und auf Dauer aus einem selbst erwirtschafteten Einkommen, einem eigenen Vermögen oder einem bestehenden Unterhaltsanspruch gegen einen Dritten bestreiten können, ohne auf einen Anspruch auf Unterhalt aus öffentlichen Mitteln angewiesen zu sein«, wird da gefordert - eine Richtlinie für die Praxis, die der Behördenwillkür Tür und Tor öffnet: Wer schließlich kann dies bei den heutigen Beschäftigungsverhältnissen noch garantieren?

Es geht aber noch weiter: »Die Unterhaltsfähigkeit umfasst auch eine ausreichende soziale Absicherung gegen Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit und für das Alter.« Ist schon für den Erwerb der permanenten Aufenthaltsberechtigung eine dreijährige Beitragszeit zur Rentenversicherung notwendig und damit ein längerfristiges sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis, so wird diese sozialstaatliche Diskriminierung nun nochmals gesteigert. Landesregierungen wie die Bayerns, Sachsens oder Baden-Württembergs, die auf die Privatisierung der Rentenversicherung setzen, dürften über ihre Kommunen durchsetzen, dass es nicht zu einer ausreichenden sozialen Absicherung kommt - sollte der Ausländer sich auf die staatliche Rentenversicherung verlassen haben.

Sozialschmarotzer - Nein danke!

Noch deutlicher wird die Verwaltungsvorschrift: »Der Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe) oder Arbeitslosenhilfe bzw. der entsprechende Anspruch schließt die Einbürgerung aus. Dies gilt auch, wenn der Einbürgerungsbewerber den Umstand, der ihn zur Inanspruchnahme dieser Leistungen berechtigt, nicht zu vertreten hat. Bei Bezug anderer Leistungen wie Arbeitslosengeld, Erziehungsgeld, Unterhaltsgeld, Krankengeld, Wohngeld oder Ausbildungsförderung nach dem Bafög ist eine Prognose-Entscheidung erforderlich, ob der Einbürgerungsbewerber künftig in der Lage sein wird, sich ohne Bezug solcher Leistungen aus eigenen Kräften zu unterhalten.«

Im Klartext: Der Einbürgerung würdig sind nur solche Ausländer, die jahraus, jahrein in die Sozialkassen einzahlen, ohne jemals auf deren Unterstützung angewiesen zu sein. Auch als Neudeutsche sollen sie die alte Funktion der »Gastarbeiter« weiter erfüllen, weitaus mehr zur sozialen Sicherung beizutragen, als sie selbst in Anspruch zu nehmen berechtigt sind.

So gesehen haben Schily, Beck und Kollegen tatsächlich Recht: Die deutsche Nation definiert sich in Zeiten des globalen Standortwettbewerbs nicht mehr völkisch, sondern nach neoliberalen Effizienz- und Leistungskriterien. Diejenigen, die erst noch Deutsche werden wollen, haben diese Anforderungen, die demnächst auch an den Rest gestellt werden, schon heute als erste zu erfüllen.