Klüngel und Klingelbeutel

»Die Politik wird in den Konzernspitzen gemacht»: Für die Linken eine Binsenweisheit, für die CDU eine Handlungsanweisung.

Dass die wirklich wichtigen politischen Entscheidungen nicht in den Parlamenten und Kabinetten getroffen werden, sondern in den Konzernzentralen, ist eine linke Binsenweisheit und inzwischen sogar in der FAZ nachzulesen - was nicht heißen soll, dass da nichts dran wäre. Klar ist aber auch, dass Konzernchefs Wichtigeres zu tun haben, als Politik zu machen: nämlich Geld. Für die Ausarbeitung und Ausführung seiner Politik braucht das Kapital also geeignetes Personal.

In der freien Wirtschaft erledigt man dieses Problem mittels Honorarvertrag oder Angestelltenverhältnis. In der Politik geht das nicht ganz so einfach. Denn auch wenn der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit bereits 1953 den Tatbestand der Abgeordnetenbestechung aus dem Strafgesetzbuch streichen ließ, so sollen die Parlamentarier nach dem Grundgesetz doch »Vertreter des ganzen Volkes« und in dieser Eigenschaft »an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen« sein. Es geht für die Industrie nun also darum, das Politikergewissen frühzeitig in die richtigen Bahnen zu lenken.

Das lässt sich auf unterschiedliche Weise erledigen: entweder durch direkte Zuwendungen, durch Hochzeitsgeschenke, Flugreisen, Ferienaufenthalte usw. an den einzelnen Politiker oder indem man eine vertrauenswürdige Parteiorganisation fördert, die dann dafür sorgt, dass nur die mit dem rechten Gewissen an die entscheidenden Positionen gelangen.

Der Politiker Helmut Kohl ist ein Produkt dieser Gesellschaftsordnung. Ohne das ausgeklügelte System von Seilschaften, Hintermännern und verdeckten Geldgebern - das zwar stets vorhanden war und ist, von der Öffentlichkeit jedoch nur ab und an wahrgenommen wird - wäre dieser Sprößling der rheinland-pfälzischen Provinz niemals ins Zentrum der Macht vorgestoßen.

Wie Bernt Engelmann in seinem immer noch äußerst lesenswerten Buch »Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern« nachgewiesen hat, verdankt der Kanzler der Einheit seinen Aufstieg vor allem dem Gummifabrikanten Fritz Ries. Dieser NSDAP-Parteigenosse hatte durch »Arisierungen« und »Übernahmen« während der NS-Zeit seinen 120-Mann-Betrieb zu einem Konzern mit 10 000 Beschäftigten ausgebaut. Nach dem deutschen Überfall auf Polen ließ Ries in Fabriken unweit von Auschwitz jüdische und polnische Zwangsarbeiter Regenmäntel für die deutsche Wehrmacht nähen und kam so zu einem Millionenvermögen.

Nach 1945 wurde der Kriegsgewinnler Vorstandsvorsitzender der Pegulan-Werke AG in Frankenthal und schon frühzeitig auf den zielstrebigen JU-Politiker Kohl im benachbarten Ludwigshafen aufmerksam. Ries ließ Kohl seine finanzielle Förderung zuteil werden und lud ihn auf Auslandsreisen ein. Das Verhältnis zwischen dem Holocaust-Profiteur und dem angehenden Ministerpräsidenten war bald sehr eng. Dank Ries' Hilfe schaffte es Kohl schließlich zum Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz. Aus dieser Zeit ist folgender Ausspruch von Fritz Ries über seinen Ziehsohn Kohl überliefert: »Wenn ich den nachts um drei anrufe, muss er springen.«

Fritz Ries konnte den weiteren Werdegang seines Schützlings nicht mehr miterleben: Nach dem zwangsweisen Verkauf seines überschuldeten Unternehmens setzte er 1977 seinem Leben selbst ein Ende. Kohl verfolgte seinen Weg nach oben alleine weiter. Mit seinem Aufstieg vom Vorsitzenden der Jungen Union Ludwigshafen zum Kanzler der Bundesrepublik Deutschland wandelte sich indes auch Kohls Rolle im Schmiergeschäft: vom Günstling zum Gunst- und Geldverteiler.

Mit seiner Macht als Vorsitzender und der finanziellen Unterstützung durch die Geldgeber im Hintergrund sorgte der emporgestiegene Kohl in den Jahren seiner Kanzlerschaft schließlich persönlich dafür, dass in seinem breiten Schatten nur solche heranwachsen konnten, die erstens die rechte Gesinnung im Sinne der Geldgeber aufwiesen und ihm zweitens nicht gefährlich werden konnten. Wer es dennoch tat - Heiner Geißler, Kurt Biedenkopf usw. - wurde abserviert oder in den Osten abgeschoben. Genehmere Politiker und Parteigliederungen wurden dagegen mit Sonderzuweisungen aus den reich gefüllten Schwarzen Kassen belohnt - etwa die CDU in Kohls Heimatstadt Ludwigshafen, die sich noch 1998 kurz vor dem Bundestagswahlkampf über eine Zahlung von 100 000 Mark aus den »Anderkonten« des Parteichefs freuen durfte.

Kein Wunder also, dass Kritik am immer noch schwergewichtigen CDU-Ehrenvorsitzenden aus den Reihen der eigenen Partei nur vereinzelt und eher verhalten geäußert wird. So wagten es bislang lediglich Randfiguren wie der stellvertretende Unionsfraktionschef Martin Luther aus dem tiefen Sachsen, offen Kohls Rückzug aus der Politik zu fordern. Die Parteiprominenz dagegen windet sich zwischen Loyalitätsbekundungen und sanften Distanzierungen. Schließlich konnten Schäuble, Merkel oder Rühe allesamt nur mit Kohls Unterstützung in der CDU Karriere machen. Wer es nun wagen sollte, mit allzu großen Steinen nach dem Ex-Kanzler zu werfen, riskiert, selbst gesteinigt zu werden.

Bislang begnügt sich die Parteispitze deshalb lieber mit Kieselsteinen. Zwar will Volker Rühe bei seinem Wahlkampf in Schleswig-Holstein auf die Mithilfe Kohls lieber verzichten. Zwar forderte CDU-Generalsekretärin Angela Merkel Kohl mittlerweile dazu auf, die Namen der Spender endlich offenzulegen, deren Gelder er auf seine schwarzen Konten leitete. Zwar erklärte Wolfgang Schäuble die »Ära Kohl« für beendet und stärkte seiner Generalin den Rücken.

Doch schon ließ der Ex-Vorsitzende seine noch vorhandene Macht spüren: Wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, drängen Kohl-Vertraute den nordrhein-westfälischen CDU-Landesvorsitzenden Jürgen Rüttgers dazu, auf dem kommenden CDU-Parteitag im April gegen Parteichef Schäuble zu kandidieren. Rüttgers hatte sich als Kandidat empfohlen, indem er den Kohl-Kritiker Luther öffentlich mit der Bemerkung: »Der hat sie nicht mehr alle« abkanzelte und auch sonst keinen Zweifel daran ließ, dass er treu zu seinem Ziehvater stehe. Auch wenn Rüttgers seine Kandidatur dementiert, so hat Kohl doch unmissverständlich klargestellt, dass er gar nicht daran denke, das Feld kampflos zu räumen. Nach Angaben der SZ soll er angesichts der Absetzbewegungen der Parteispitze gedroht haben: »Meine Truppen stehen.«

Dass es zum offenen Krieg in der Union kommen wird, scheint indes eher zweifelhaft. Kohl vermied es, auf der CDU-Klausurtagung in Norderstedt am Wochenende zu erscheinen. Parteichef Schäuble und Generalin Merkel versuchten unterdessen die Affäre herunterzuspielen. Trotz aller Lippenbekenntnisse Schäubles, den Skandal lückenlos aufklären zu wollen, wäre es den Partei-Oberen verständlicherweise lieber, sie könnten das leidige Thema endlich ruhen lassen und sich stattdessen wieder den »Sachthemen« zuwenden. Schließlich dürften sie von Kohl vor allem eines gelernt haben: Affären erledigt man am besten durch Aussitzen.

Von den so genannten Jungen Wilden geht jedenfalls kaum Gefahr aus. Wie Kohl selbst sind auch sie allesamt Produkte des Systems, wie er schon in »jungen Jahren« - bei der CDU ist das die Zeit zwischen 40 und 50 - tief verstrickt in das Gewirr aus Klüngel und Klingelbeutel; auch wenn die Geldgeber wegen des zeitlichen Abstands nun meist nicht mehr direkte Profiteure der Verbrechen des Dritten Reiches sind. Bestes Beispiel: der hessische Ministerpräsidenten Roland Koch. Seine rassistische und ausländerfeindliche Anti-Staatsbürgerschaft-Kampagne, mit der er im vergangenen Jahr die Wahlen in Hessen gewann, ließ sich Koch durch einen dubiosen 1,5 Millionen-Mark-Kredit finanzieren, den der frühere Schatzmeister der CDU Hessen, Prinz Wittgenstein, der Partei zur Verfügung gestellt hatte und der bislang in keinem Rechenschaftsbericht auftauchte. Gleichzeitig wurde bekannt, dass die hessischen Christdemokraten zwischen 1989 und 1996 aus einer anonymen Erbschaft, die über das Schwarzgeld-Paradies Liechtenstein abgewickelt wurde, 12,7 Millionen Mark erhalten haben.

Auch wenn der Staatsanwalt inzwischen gegen Kohl wegen Untreue ermittelt: Natürlich wird der CDU-Ehrenvorsitzende nicht verurteilt werden, geschweige denn im Gefängnis landen, so wie er auch in der Flick-Affäre dank Blackout ungeschoren davon kam. Natürlich wird auch die straf- und parteigesetzwidrige Finanzierung von Politikern und Parteien weitergehen, so wie Helmut Kohl nach dem Aufkommen der Flickaffäre neue Mittel und Wege fand, Schwarzgelder zu sammeln und zu verteilen. Trotzdem kann man sich auf weitere unterhaltsame Wochen freuen, mit immer neuen Details über illegale Spenden (so hat der Focus inzwischen den ersten anonymen Spender von Kohls Schwarzkonten enttarnt: den verstorbenen Bau-Mogul Fritz Schörghuber), mit neuen empörten oder auch entschuldigenden Kommentaren der bürgerlichen Presse und mit den unausweichlichen Dementis und gegenseitigen Schuldzuweisungen der Politiker. Kurz: Man kann sich wohlig im Fernsehsessel zurücklehnen und dabei zuschauen, wie die eigenen Binsenweisheiten und Vorurteile wieder einmal bestätigt werden.