Liebknecht und die Idioten

Früher warnten uns unsere Eltern vor den Gammlern, heute warnen Linke vor den Autonomen. Eine Antwort auf Ivo Bozics Ratschlag, die LL-Demo zu meiden und Campari zu trinken.

In der vergangenen Woche war in der Jungle World der Versuch einer richtig frechen Polemik gegen die Berliner Luxemburg-Liebknecht-Demo zu lesen. Vorausschauend wurden als Teilnehmer an diesem Ereignis eine »Armada von Rübenköpfen« angekündigt, »alle Mitglied der einen oder anderen verrückten Partei, Seilschaft oder Sekte«. Man könne die Armada aber auch als »Massenauflauf der autoritären Sozialisten« bezeichnen und müsse ihn als solchen »meiden«. Betrachte man das ganze hingegen als »Spinner-Parade«, sei festzuhalten: »Einigkeit mit Idioten ist immer falsch.« Wer diese Ansicht teilt (und wer tut das nicht?), könne den Massenauflauf der autoritären Sozialisten womöglich doch nicht meiden: »Müsste man nicht eher gegen 90 Prozent dieser LLL-MarschiererInnen demonstrieren als mit ihnen?«

Es gibt Texte, die reizen zur Kommentierung und trotzen doch jeglicher Bemühung der Kritik, weil diese zumindest minimale Möglichkeiten braucht, nicht nur Gedanken, sondern vor allem Gedankengänge zu identifizieren. Nicht die schiere Ansammlung einzelner Gedanken macht einen Text zum Gegenstand der Kritik, sondern der Modus, der die Gedanken miteinander verbindet und sie zu einer Überlegung eint. Fehlt dieser Modus, kann es keine Kritik geben, weil es keinen Text gibt. Während der Autor eines Nicht-Textes die Beflissenheit des Kritikwilligen böse enttäuscht, ist er andererseits fein raus: In der demonstrativen Gebärde des jungen Wilden ruft er den Zorn der Beleidigten hervor und nimmt diesen Zorn dann als Ausweis für die provokative Qualität seiner Äußerungen. In Wirklichkeit ist es nichts als die krude Androhung gegenseitiger Feindschaft, die den Autor zum einsamen Helden befördert, sobald die Beleidigten aufheulen.

Diese Berechnung funktioniert in dem Beitrag »Die Roten und die Rosa« einzig und allein auf der Grundlage Milieu-interner Kommunikations-Codes. Die haben die Eigenschaft, Verständigung bereits im bloßen Austausch von Signalen zu garantieren, im Hintergrund rauscht der ideologische Konsens der Kleingruppe. Er ist der Bezugspunkt und gleichzeitig die Kulisse des Appells zur LL-Demo: »Auch die Antifaschistische Aktion / Bundesweite Organisation (AA/BO) wird sich dort dieses Jahr auf der manischen Suche nach Massen wieder einreihen - zwischen Schalmeienkapellen, Mauerschützen, Stasi-Seilschaften, Kommunistischen Plattformen, DKP, MLPD, Rim-Maoisten, Roten Garden, blauen Hemden, Ost-Spinnern und ähnlich Abgedrehten. Warum?« - will Ivo Bozic wissen.

Warum stellt jemand überhaupt eine solche Frage? Weil er geordnete Verhältnisse mag. Die existieren abseits der LLL-Demos in der Regel auch: Von den Personen, die der Autor im »Bündnis vom autoritären Stalinisten bis zum wirren MLPD-Sektenmitglied« ansiedelt, werden Autonome und andere Linke zumindest intern gerne als kleinbürgerliche Liberale bezeichnet; Autonome wiederum haben gegen die Abgrenzung an sich wenig einzuwenden, begründen sie aber ihrerseits mit der Abneigung gegen den traditionell orientierten marxistischen Dogmatismus und die kadermäßige Organisierung der proletarischen Avantgarde. Normalerweise betreiben diese Abteilungen der Linken ihr Engagement ziemlich unabhängig voneinander, Berührungen gibt es hin und wieder bei antifaschistischen Aktionen, mal eher zufällig, mal im »Bündnis«.

Mit ihrer Beteilung an der LL-Demo aber durchbrechen die Autonomen Antifas von der AA/BO zum wiederholten Male die Revier-Einteilung im linken Distrikt, und zwar, ohne durch Aktivitäten von Neonazis zum Bündnisschließen gezwungen zu sein. Eine Grenzüberschreitung, die Bozics Idee von einer sauberen Linken ernstlich untergräbt und ihn dazu veranlasst, alle Stoppsignale, die die Szene als solche erkennen kann, auf Rot zu schalten - obwohl der Zug längst vorbei ist: Ein gestammelter Appell an die traditionellen Feindbilder der Autonomen. Deren Argument, man könne sich seine Bündnispartner nicht immer aussuchen, wird gekonnt pariert: »Warum macht ihr dann nicht einen Antifa-Block auf der Love-Parade oder beim Hertha Heimspiel?« Oder beim Bundespresseball? Oder beim Berlin-Marathon? »Spinner-Paraden« gibt's schließlich genügend, ha, ha.

Auf dem nächsten Warnschild steht »Sozialdemokraten« drauf. Ebenfalls zwanghaft-emsig um einen Trash-Faktor bemüht, palavert Bozic ein wenig über die Historie: »Warum muss man sich ausgerechnet auf die linken Sozialdemokraten Luxemburg und Liebknecht beziehen, um die eigene Vorstellung von einer neuen Gesellschaft auszudrücken? Wieso inszeniert die AA/BO nicht eine eigene Thälmann- oder Dimitroff-Demo? Das würde doch viel besser passen.« Ha, ha. Geschichte? Hab ich immer geschwänzt. Hau weg die Scheiße, schließlich leben wir im Hier und Jetzt.

Auf dem nächsten Warnschild steht »Neonazis«. Bozic referiert einen Auszug aus dem Demo-Aufruf der Autonomen und resümiert: »Ohne Frage auch NPD-kompatibel.« Der referierte Auszug lautet: »Die Gedenkveranstaltung ist die größte linke Veranstaltung in der BRD. Jährlich demonstrieren 100 000 Menschen an diesem Tag, dass sie den Kapitalismus nicht als letzte Weisheit der Geschichte akzeptieren und die aktuellen Lebensbedingungen verändern wollen.« Das ist in der Tat NPD-kompatibel, genauso wie die Wetterkarte oder die Straßenverkehrsordnung.

Auch ansonsten, so Bozic, sei viel Betrug und Selbsttäuschung im Spiel. Die jährlich verbreitete Zahl von 100 000 Teilnehmern sei ein Fake, überwiegend handele es sich um »SeniorInnen«, die nicht an der eigentlichen Demo teilnähmen, sondern zum Klang von Arbeiterliedern an der Gedenkstätte vorbei »defilieren»; ebenfalls habe, nachdem 1998 zu Gunsten der Autonomen auf das dritte »L« (für Lenin) verzichtet worden sei, der Vorsitzende des Bundes der Antifaschisten trotzdem »augenzwinkernd« zur »LL (...) Demo« eingeladen. Zudem, so ist nebenbei zu erfahren, verberge sich in den »Klassenkampf-Parolen« aus dem »Sektenumzug« knallharter orthodoxer Stalinisten doch nur »wachsweicher Revisionismus»; auch bestehe der Verdacht, die Einrichtung eines eigenen Antifa-Demo-Blocks durch die AA/BO diene in Wahrheit gar nicht der Abgrenzung von den übrigen Teilnehmern, sondern sei nur ein Alibi fürs Mitgehen.

Man sollte allerdings diese Mängelliste nicht für den misslungenen Versuch halten, ein gesellschaftliches Ereignis persiflierend zu beschreiben. Sie illustrieren lediglich das Bedürfnis nach Unterscheidung. Die Aufforderung an die Autonomen, sich der etablierten Szene-Ressentiments zu erinnern, entspringt dem distinktiven Anliegen, die eigene kleine Welt zu verteidigen und den Verrat am eigenen Lebensstil und -entwurf zu revidieren. Der demonstrative Gestus weltoffen-hedonistischen Esprits, der einen »schönen Campari-Orange« höher schätzt als die Teilnahme an der LL-Demo, scheitert an der ihm innewohnenden Zwanghaftigkeit, ständig gegen Attacken auf der Hut zu sein. Bozics Ordnungsrufe passen in den Horizont vormaliger Elterngenerationen, die ihre Sprösslinge vor Hippies, Gammlern und Haschischrauchern warnten: Deren Rolle spielen nun die LL-Demonstranten, die als sozialästhetisch unappetitliche Substanz ganz schlicht durch bloße Titulierung kenntlich gemacht werden; erkennbar ist das Pack nicht wie ehedem an ungepflegten Vollbärten, sondern an der roten Fahne. In seiner Ärmlichkeit kann dieses Verfahren der Zuschreibung nicht einmal darauf verzichten, den Springteufel des »Spießer-Kommunisten« aus der Mottenkiste der Ressentiments zu holen.

So wirft Bozics Auseinandersetzung mit der LL-Demo, wenn überhaupt irgendetwas, eine alte, doch jederzeit aktuelle Thematik der Jugendsoziologie auf: Abgrenzung und Identifikation. Die großkotzige Abrechnung mit den Kommunisten und erst recht die mit dem falschen Tun der autonomen Freunde will durch die Coolness und die Distanz desjenigen beeindrucken, der einfach »zu Hause« bleibt; getrieben jedoch vom inneren Zwang, sich zu allem und jedem ins Verhältnis zu setzen und vom (zugehörigen) Bedürfnis nach identitätsstärkendem Rückhalt, landet der Autor bei einer ziemlich uncoolen, pastoral-agitatorischen Anrufung des Kollektivs. Wobei der soeben noch zum linken Sozialdemokraten erniedrigte Liebknecht als Kronzeuge auftreten muss: »Nur aus schonungsloser Kritik kann Klarheit erwachsen, und nur aus Klarheit Einigkeit.«

Es geht um die Einigkeit der Clique, und in ihrer Ernsthaftigkeit zeigt deren Beschwörung nebenbei, dass auch der Sponti jene Erotik noch nicht entdeckt hat, deren Fehlen in den phantasielosen Aufrufen zur LL-Demo bemängelt wird: »Haben wir nicht nur dann eine Chance, Lehren aus den Fehlern der sozialistischen Geschichte zu ziehen, wenn wir uns von denen deutlich distanzieren, die diese Fehler noch heute feierlich zu ihrem Politik-Ansatz erklären?«

Es dürfte unbestreitbar sein, dass die LL-Demo als politischer und gleichzeitig tragikomischer Aufzug publizistische Aufmerksamkeit durchaus verlangt. Ebenso unbestreitbar und an der Nervosität Bozics abzulesen ist, dass dieser Aufzug womöglich Probleme der sozialen Orientierung zuspitzt. Im vorliegenden Fall allerdings folgt diese Zuspitzung einem überaus traditionellen Reflex. Bozics Beitrag ist ein simpel-wirres Bekennerschreiben und verlangt vom angesprochenen Kollektiv gleichlautende Antwort auf die gestellte Frage. Auf welcher Seite stehst du? Solche Zumutungen sollte sich eine Zeitung nicht zu Eigen machen.