Birth of the Nations

»Zivilisatorische Mission«

Mit »Staatsnation« versus »Stämme« nicht zu fassen: Die Dialektik nationaler Befreiung.

Jürgen Elsässers parteinehmende Entgegensetzung von »Staatsbürgernationen« und »Stämmen« bzw. »Blutsvölkern« (»Aufstand der Stämme«, konkret, 12/99) taugt weder für eine linke Kritik der gegenwärtigen Ausbrüche nationalistischen Terrors, noch begreift sie die negativen Konsequenzen der Dialektik nationaler Befreiungsbewegungen. Dies zeigt auch das Beispiel der kurdischen Nationalbewegung in der Türkei und deren aktuelle Entwicklung.

Auch ein differenztheoretisch aufgemotzter Artikel der langjährigen Kurdistan-Aktivistin Sabine Skubsch in der neuen Ausgabe der Zeitschrift Blätter des iz3w (»Solidarität an den Betroffenen vorbei?«, iz3w, Nr. 242) liefert unfreiwillig Stoff für diese These. Er richtet sich vor allem gegen die antinationale Kritik der gruppe demontage an der PKK und argumentiert unter Rückgriff auf Frantz Fanons Theorie des antikolonialen Befreiungskampfes in Algerien - seit jeher ein beliebter Topos der Abwehr antinationaler Kritik in solibewegten Kreisen. Deshalb zunächst ein kurzer Blick auf Fanon und den Antikolonialismus.

Elsässer erwähnt in seinem Artikel u.a. lobend, die gegen das Vordringen des Faschismus kämpfende KP im Frankreich der dreißiger Jahre »stellte auch für die Kolonien die Losung vom 'Selbstbestimmungsrecht der Völker' zurück«. Er zitiert die Begründung von KPF-Chef Maurice Thorez: »So liegt der Vorteil der Kolonialvölker in der Zusammenarbeit mit dem französischen Volk und nicht in einer Haltung, die den Plänen des Faschismus Vorschub leistet.« Genau in diesem Geist war der junge Fanon auf den französischen Antillen freiwillig zu den Waffen geeilt, um die universellen humanistischen Ideale der französischen Kultur gegen die Barbarei des nationalsozialistischen Deutschland zu verteidigen - und hatte bei seinem Einsatz an der alliierten Front den Rassismus in der französischen Armee und die kolonialrassistischen Verhältnisse in Nordafrika kennen gelernt.

Sabine Skubsch hebt positiv hervor, dass Fanon »den Kampf gegen den französischen Kolonialismus genauso wie gegen Ethnisierung und Tribalismus« führen wollte und dabei die Nation als Durchgangsstadium zur sozialen Befreiung verstand. In der Tat hat Fanon mit einem ganz ähnlichen Argument wie Elsässer jede antikoloniale Mobilisierung auf ethnisierter Basis abgelehnt und dem die Nation entgegengesetzt: »Gegenüber der städtischen Partei, die anfing, 'den nationalen Willen' zu verkörpern und eine Gefahr für das Kolonialregime darzustellen, entstehen Grüppchen, Strömungen und Parteien auf ethnischer oder regionalistischer Basis. Ein ganzer Stamm mausert sich zur politischen Partei, die von den Kolonialisten aus der Nähe beraten wird (...)« (Fanon, »Die Verdammten dieser Erde«, Frankfurt/Main 1981, S. 101f.). Als Zugeständnis an antinationale Kritik merkt Skubsch hier gegenüber Fanon kritisch an, »die Konstruktion einer homogenen Nation trug dazu bei, die sozialen und politischen Widersprüche innerhalb der Nation zu verwischen«. Das ist zutreffend, aber dennoch zu kurz gegriffen.

Fanon erschien nämlich vor allem ein abstrakter Vertragsbegriff der Staatsbürgernation zu wenig, um für die nationale Befreiung zu mobilisieren. Den nötigen stärkeren Kitt, um die Individuen an die nationalstaatlich organisierte Vergesellschaftung zu binden, fand er in der nationalen und kulturellen Identität. Er sah zwar die drohenden »Mißgeschicke des nationalen Bewußtseins« (so der Titel eines Kapitels der »Verdammten ...«) in Gestalt von Chauvinismus, Rassismus und dem »Schmalspur-Faschismus« postkolonialer Regimes. Dagegen setzte er auf die Rettung der Nation vor dem Nationalismus durch gesellschaftliches und humanistisches Bewusstsein. Dieses konnte für Fanon aber nur aus einer im revolutionären Kampf zu entwickelnden nationalen Kultur kommen, die ihm als in »Blut und Zorn geschaffenes Bindemittel« dienen sollte.

Sein Kulturbegriff macht sich dynamisch an der Vorstellung »eines intensiven, ständig sich erneuernden unterirdischen Lebens« fest, das ihm zugleich die »tiefere Substanz« im überhistorisch existierenden »Volk« ist (S. 189). Nationale Identität und Kultur werden so wieder verdinglicht und mystifiziert. Fanon greift zu biologistischen Metaphern über »die Nation, der materiellen Stammutter, durch die Kultur erst möglich wird. Es gibt keinen kulturellen Kampf neben dem Kampf des Volkes«. (S. 197) Keinen Zweifel lässt Fanon am Medium dieses Kampfes: »Die Existenzbedingung der Kultur ist also die nationale Befreiung, die Wiedergeburt des Staates.« (S. 207)

Wie trügerisch Fanons Hoffnungen waren, zeigte sich nicht zuletzt am Schicksal seiner eigenen Theorie im postkolonialen Staat Algeriens. Nur drei Jahre nach seinem Tod wurde der große Theoretiker der algerischen Revolution von der FLN im Zuge der Arabisierungspolitik, die diese nach der Unabhängigkeit zur identitätsstiftenden Unterfütterung ihres staatsautoritär organisierten Projektes nachholender Modernisierung eingeschlagen hatte, öffentlich zum nicht-arabischen Fremden erklärt, dessen Denken für die neue algerische Gesellschaft keinen Wert besitze (nach: Detlev Claussen, »Was heißt Rassismus?«, Frankfurt/Main 1994, S. 201).

Die Konsequenz aus diesem Beispiel kann nur sein, dass ohne grundsätzliche Kritik der Nation als staatlich organisiertem Zwangs- und Herrschaftsverhältnis auch kein kritischer Begriff vom Umschlag der »Staatsbürgernation« in ethnizistisch, religiös oder kulturalistisch geprägtes »Stammesbewusstsein« zu haben ist. Es ist daher unverzichtbar, den Staat bei der Kritik verschiedener Nationenkonzepte immer mitzudenken. Dies lässt sich gerade am türkisch-kurdischen Beispiel gut aufzeigen.

Mit Atatürk und kurdischer Identität für den starken Staat

Dass die moderne kurdische Nationalbewegung in der Türkei wie die PKK eine Selbstethnisierung durch die Behauptung und Bestätigung einer eigenen kurdischen Identität betrieben hat, erklärt sich nur vor dem Hintergrund der türkischen Assimilationspolitik, die untrennbar mit dem Konzept des kemalistischen Einheitsstaates verbunden ist. Der kemalistische Nationalismus hatte sich zwar zunächst stark am französischen Vorbild der Staatsnation orientiert, dabei aber vor allem deren Zentralismus für ein autoritäres staatliches Modernisierungsprogramm aufgegriffen.

Nachdem die kurdischen Führungsschichten zunächst von den Kemalisten im Unabhängigkeitskrieg 1919 bis 1922 mit Angeboten von nationaler Anerkennung und Autonomie als Verbündete umworben wurden, gingen diese aber bald zu einer Politik der Assimilation und Unterdrückung jeder kurdischen Besonderheit über. Die von den damaligen imperialistischen Großmächten, in diesem Fall vor allem England, betriebene Volksgruppenpolitik zur Aufteilung des aus dem osmanischen Reich hervorgegangenen neuen Nationalstaates bildete dabei den realen Hintergrund, verselbstständigte sich aber bald zu einer verschwörungstheoretisch-paranoiden Konstante im Diskurs des türkischen Nationalismus.

Der kemalistische Nationalismus war mit seinem autoritären Projekt des modernisierenden Einheitsstaates aber auch auf kollektive Identitäts- und Sinnstiftung angewiesen. Und so lud er sich spätestens seit den dreißiger Jahren mit einem rassistisch angereicherten Diskurs der ideologischen Überhöhung des Türkentums auf, welcher in der »Sonnensprachtheorie« mit der Leugnung eigenständiger kurdischer Sprache und ihrer Rückführung auf türkische Ursprünge kulminierte. Dabei ging es nicht nur um ein Wegdefinieren der kurdischen Teile aus der türkischen nationalen Geschichtserzählung, sondern auch um eine spezifische Zuschreibung im Rahmen eines kemalistischen Modernisierungsdiskurses. Dieser strich die »zivilisatorische Mission« des Kemalismus zur Verwestlichung des Landes gegen alles Kurdische heraus.

Scheinbares Paradox: »Kurdisch-Sein« wurde gleichzeitig mit der Leugnung seiner Existenz zum Symbol eines stigmatisierten »Anderen«, das dem »zivilisatorischen« kemalistischen Ziel einer homogenen Verwestlichungs-Modernisierung der Türkei entgegenstand und missionarisch kolonisiert werden musste. Faktisch aber wurden die tribalistischen Verhältnisse durch die angewandte Gewaltpolitik konserviert.

Vor diesem Hintergrund entstand aus der Ex-negativo-Zuschreibung der KurdInnen als besonders rückständigem Teil einer ethnisch homogenen türkischen Gesellschaft - einen entstellten türkischen Dialekt sprechende »Bergtürken« - die ethnisierende Selbstzuschreibung kurdischer Identität. Geradezu zwangsläufig konstruierte die kurdische Nationalbewegung das »Eigene«, die einheitliche Geschichte kurdischer Tradition und Kultur, vor allen anderen die Nation begründenden Vorstellungen gesellschaftlicher Verfasstheit zuerst ethnizistisch. In Gestalt der PKK gebärdete sie sich darüber hinaus nahezu genauso autoritär und staatsfixiert wie ihr kemalistisches »Gegenstück«. Und daran hat sich selbst durch die jüngsten Entwicklungen wenig geändert, wie sich nicht nur am Vorgehen der PKK gegen die Kritiker der neuen Linie zeigt (vgl. Jungle World, 2/00).

In seiner Verteidigungsschrift an den Kassationsgerichtshof redet Öcalan nun von der »demokratischen Republik und Verfassung« in der Türkei als seinem einzigen Ziel und stellt dieser »das menschheitsverachtende Antlitz fanatischer Religionen, Nationen und chauvinistischer Stämme« gegenüber. Er lobt als globales Vorbild dafür, »dass ein starker Staat realisiert werden kann, in dem die größte Freiheit und Gleichheit der unterschiedlichsten freien Gedanken, Überzeugungen und Kulturen richtig praktiziert wird (...), sogar selber die USA: hier ist durch die Gemeinschaft fast aller Sprachen, Religionen und Nationen ein fast föderativ zu nennendes Weltsystem entstanden.«

Öcalan bezieht sich jetzt auch positiv auf Atatürk und schreibt, er »glaube nicht«, dass die antikurdische Unterdrückungspolitik »eines der fundamentalen Ziele des Gründers der Republik« gewesen sei. Ganz im Sinne der offiziellen Geschichtsschreibung sei vor allem Englands Politik, »auf Grund der Erdölvorkommen in den Gebieten Mosul-Kerkuk (...) die Kurden als Spielball zu nutzen«, Grund für die brutale Niederschlagung kurdischer Aufstände gewesen: »Das Ziel war der Schutz der Republik.« Erst später seien Atatürks ursprüngliche Ziele auf Grund der »oligarchischen Struktur« gründlich korrumpiert worden, seine »zwei Versuche einer Demokratisierung« seien »nicht nur mit seiner (Atatürks; U. W.) autoritären Art« gescheitert. Indem Öcalan auf diese Weise Atatürk rehabilitiert und gegen die »oligarchischen Abweichungen« der Geschichte der Republik verteidigt, knüpft er im Grunde an den alten linkskemalistischen Nationalismus der radikalen Linken in der Türkei an - statt deren kommunistischer Perspektive jedoch mit dem bloßen Wunsch nach Anschluss an »Zivilgesellschaft«, »Demokratie« und »das Eintreten rechtlich garantierter unterschiedlicher Gedanken, Überzeugungen und Kulturen in einen Wettbewerb«.

In seiner ersten Verteidigungsrede appellierte Apo auch an die Großmachtträume des politischen Personals in der Türkei, die zu ihrer Verwirklichung der Lösung der »kurdischen Frage« bedürften: »Es ist sicher, dass im Falle der Lösung des größten Problems in der Geschichte der Republik, die Türkei mit der Kraft des inneren Friedens zu einer absoluten Regionalmacht aufsteigen wird« (zit. nach Sol-Info, »Öcalan, die PKK und die Linke«, www.sosyalist.de).

Sabine Skubsch kommt zu der naiven Interpretation, Öcalan habe in seiner Verteidigungsrede »kurdisch-nationalistischen Standpunkten eine schroffe Absage« erteilt, indem er sich »von der Idee eines eigenen kurdischen Staates distanziert« habe. Das hat er getan - aber nur, um den kemalistischen Staat in der Türkei zu affirmieren und ihn um eine multiethnische Komponente erweitern zu wollen.

Vor diesem Hintergrund macht es auch wenig Sinn, dem alten, längst politisch bankrotten kemalistischen Staat als »türkische Version des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates« nachzutrauern und diesen als »gemeinsame(s) Feindbild von Islamisten, kurdischen Nationalisten und der deutschen Außenpolitik« (Justus Wertmüller, konkret, 12/99) aufzubauen.

Öcalan und die PKK können zwischen sezessionistischen Vorstellungen kurdischen Selbstbestimmungsrechts und einem staatsbürgerschaftlich integrativ erneuerten Kemalismus in einer »demokratischen Republik Türkei« hin- und herpendeln, ohne dabei ihr im Grunde ethno-pluralistisches Weltbild eines Nebeneinanders essenzialistisch konstruierter Völker und Kulturen kritisch hinterfragen zu müssen.

Statt nur scheinbar gegensätzliche Konstruktionen staatsbürgerlicher Identität dichotom gegenüberzustellen, sollte antinationale und anti-deutsche Kritik die dialektische Vermittlung von beiden durch ihr gemeinsames Drittes zum Ausgangspunkt nehmen. Erst im nationalen Staat wurden die der Realabstraktion wertförmiger Warenvergesellschaftung entspringenden Herrschaftsverhältnisse und Identitätskonstruktionen zu der materiellen Gewalt, die stets das Umschlagen in offene Gewalt in sich trägt.

Das gilt auch dort noch, wo sich auf den Ruinen gescheiterter staatlicher Modernisierungsprojekte dem Gesetz der Meute gehorchende Bandenökonomien etabliert haben, gegenüber denen die PKK wie auch der türkische Staat geradezu sympathisch fordistischen Vorstellungen staatlich organisierter Modernisierung von Gesellschaft entsprechen. Auch das Gewaltregime islamistisch oder ethnizistisch kostümierter postfordistischer Kriegsunternehmer in einigen afrikanischen Ländern, Afghanistan, Tschetschenien oder Jugoslawien ist ohne die gewaltsame Durchsetzung wertförmiger Staatlichkeit und deren Krise nicht zu erklären. Die von Banden und Clans betriebene Legitimation durch völkische oder religiöse »Identität« und angebliche »Tradition« stellt immer auch den Versuch dar, das nicht eingelöste Sicherheitsversprechen moderner (Sozial-) Staatlichkeit dort wiederzugewinnen, wo der Kollaps peripherer Modernisierung solchen staatlichen Projekten den Boden entzogen hat.

Wenn es für radikale Linke bei den daraus resultierenden kriegerischen Auseinandersetzungen keinen Sinn macht, Partei zu nehmen, so ist gerade deshalb entschieden jedem Versuch des eigenen Landes und seiner staatstragenden Rackets entgegenzutreten, diese Kriege interventionistisch für die machtpolitischen Ziele des deutschen Wettbewerbsstaates zu instrumentalisieren.