Choses et autres

Vor 100 Jahren wurde der französische Lyriker und Drehbuchautor Jacques Prévert geboren.

Aufmerksam verfolgt Frankreich die Vorträge, die Jacques Prévert 1945 nach der Befreiung von den Deutschen im Radio hält. Sein erster Sammelband mit Gedichten, »Paroles«, verkauft sich trotz der vielen Bücher, die nach den Rationierungs- und Zensurjahren des Krieges erscheinen, glänzend. Zum ersten Mal erfährt der Drehbuchautor von »Les Enfants du paradis« (»Die Kinder des Olymp«) breitere Anerkennung als Dichter. Und dennoch läuft er ziemlich melancholisch durch die Straßen von Montparnasse.

Eine neue Generation von Intellektuellen hat sich an anderer Stelle, im Schatten von Saint-Germain-des-Prés, angesiedelt. Viele seiner ehemaligen Mitstreiter sind tot oder durch die Emigration in alle Winde verstreut. Und die, die geblieben sind, scheinen durch die Jahre unter der Okkupation moralisch diskreditiert. Sogar Prévert wird der Vorwurf gemacht, der Fatalismus seiner Vorkriegsfilme sei mitverantwortlich für die französische Niederlage von 1940. Dieser Vorwurf trifft den Dichter, der immer nach einer sozialen Relevanz für sein Schreiben gesucht hat, tief.

Schon mit 15 hat Prévert, der am 4. Februar 1900 als Sohn eines Verwaltungsangestellten geboren wurde, die Schule verlassen und sich seinen Lebensunterhalt selbst verdient. Er probiert verschiedene Berufe aus und lernt den Existenzkampf der einfachen Leute kennen, denen in Zukunft seine ganze Loyalität gilt. Im Militärdienst freundet er sich mit dem Literaten Marcel Duhamel an, der von »seinem unaufhörlich sprudelnden Geist und seiner Konversation« (Duhamel) fasziniert ist. Zusammen mit dem Maler Yves Tanguy beziehen sie nach ihrer Entlassung ein Haus in Montparnasse, Rue du Château.

Prévert lebt ohne konkreten Lebensentwurf. Zusammen mit dem Fotografen Man Ray, der eine Filmkamera besitzt, erkundet er die dunkleren Viertel von Paris. In seiner Autobiographie schreibt Man Ray über die Zusammenarbeit: »Bevor ich meine professionelle Filmausrüstung endgültig veräußerte, benutzte ich sie noch einmal für eine Art kinematographischer Stadt- oder besser Slum-Rundfahrt. Angestiftet von dem Dichter Jacques Prévert, der der Surrealistengruppe nahestand, durchschweiften wir die dunkleren Viertel von Paris mit meiner Kamera und filmten, nicht ohne Gefahr, was der Zufall uns brachte. Mit der Erlaubnis des Besitzers eines Tanzlokals, in dem allerlei zwielichtige Gestalten mit ihren Frauen verkehrten, dank Préverts vollkommener Beherrschung des Argot und weil wir einige Runden ausgaben, gelang es mir, das Treiben dort in einer Szene festzuhalten.«

Die einfachen Dinge des Alltags faszinieren Prévert und sind das Material für seine Gedichte, Filme, Chansons. Sie sind Sinnbild für eine Freiheit und Lebensfreude, die der bigotten, korrupten und verlogenen Bourgeoisie längst verloren gegangen ist. Mit dieser Haltung findet er Anschluss an die Surrealistische Bewegung, der er ab Mitte der zwanziger Jahre angehört, bis er 1928 nach zahlreichen Konflikten mit dem tyrannischen André Breton hinausgeworfen wird.

Prévert schließt sich der Schauspieltruppe Groupe Octobre an, eine Art Agit-Prop-Theater, das kurze Stücke und Szenen in Arbeitervorstädten und Fabrikhallen aufführt. Mit zwei von Préverts Stücken, »Citro'n« und »La Bataille de Fontenoy«, ist die Gruppe 1933 an der Olympiade des Arbeitertheaters in Moskau beteiligt und wird mit dem ersten Preis ausgezeichnet.

Für seinen Bruder Pierre schreibt er ein Drehbuch mit dem Titel »L'Affaire est dans le sac« (»Das Ding ist geschaukelt«), die Geschichte eines groß angelegten, »antibürgerlichen« Hutdiebstahls. Der Film entwickelt einen für seine Zeit ungewöhnlichen absurden Humor, der vom Publikum nicht verstanden wird. Jean Renoir dagegen ist von Préverts anarchistischem Witz sehr angetan. Gemeinsam mit ihm möchte er »eine Gesellschaft der überflüssigen Geste gründen, deren Ziel es sein soll, vollkommen unnütze Handlungen zu belohnen. Zum Beispiel soll belohnt werden, wer das Haus eines Nachbarn, der ihm nie etwas getan hat, in Brand setzt. Dagegen soll bestraft werden, wer in die Seine springt, um einen Hund zu retten. Wer Autos auf der Straße anhält, um eine alte Frau vorbeigehen zu lassen, soll bestraft werden; wer dagegen Autos anhält, um niemand vorbeizulassen, soll belohnt werden.« Dieses Auszeichnungssystem soll den universellen Frieden herbeiführen.

Im Frankreich des Jahres 1935 diskutiert man jedoch andere revolutionäre Ansätze. Auf den Straßen liefern sich kommunistische und profaschistische Gruppierungen Schlachten. Vor diesem Hintergrund schreiben Prévert und Renoir »Le Crime de Monsieur Lange«. »Das Verbrechen des Herrn Lange« spielt in einer Druckerei, die von dem korrupten Besitzer in den Bankrott getrieben worden ist. Um die angefallenen Schulden nicht bezahlen zu müssen, taucht er unter. Seine Angestellte schließen sich zu einem Kollektiv zusammen, um das Unternehmen zu retten. Als der Besitzer wieder in seiner Firma auftaucht, erschießt ihn der kleine Angestellte Herr Lange.

Obwohl der Film an der Kinokasse ein großer Erfolg wird, wendet sich Prévert mit dem Sieg der Volksfront über die bürgerlichen Parteien von sozialrevolutionären Themen ab und arbeitet mit Marcel Carné zusammen. Nach »Jenny«, ihrer ersten gemeinsamen Arbeit, entstehen bis 1949 noch sieben gemeinsame Filme, darunter »Dr(tm)le de drame« (»Ein sonderbarer Fall«), »Quai des brumes« (»Hafen im Nebel«) und »Le Jour se lève« (»Der Tag bricht an«).

In der Zeit der Okkupation finden diese Arbeiten wenig Gegenliebe. Prévert wird vorgeworfen, einem quengelnden und gleichzeitig brutalen Ästhetizismus zu huldigen. Prévert zieht sich in die freie Zone zurück, nach Saint-Paul-de-Vence. Zusammen mit dem Komponisten Joseph Kosma, einem gebürtigen Ungarn, schreibt er zahlreiche Chansons, die nach dem Krieg populär werden. Immer wieder reist er unter falscher Identität in das besetzte Paris, um an Filmprojekten mit Carné weiterzuarbeiten. In dieser Zeit entsteht u.a. der Klassiker »Die Kinder des Olymp«, der in der Nachkriegszeit großen Erfolg hat.

Nach einem Radiovortrag stürzt Prévert 1948 aus dem ersten Stock des Sendegebäudes. Für mehrere Wochen liegt er im Koma. Zur Genesung zieht er sich für mehrere Jahre mit seiner Familie nach Saint-Paul-de-Vence zurück. In Zusammenarbeit mit befreundeten Künstlern und Fotografen entstehen Gedichtbände und Monografien. Erst 1955 kehrt er nach Paris, in unmittelbare Nähe des Moulin Rouge, zurück, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1977 lebt.