Es bleiben die Tränen

George Michael stellt seine Jahrhundertbilanz der großen Gefühle und Arrangements vor.
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Wir leben in bewegten Zeiten. Und wenn die Orientierung schwerfällt, die Kompasse sich unsicher drehen, die Karawanen ziehen und die Hunde bellen, dann heißt es: Konzentration auf das Wesentliche. Und das sind vor allem zwei Fragen: Was bleibt? und: Was tun? Wer Antworten auf letztere hat, geht im Moment an die Börse und tut sich nicht mit Bombenlegern zusammen. Wer wissen will, was bleibt, hat Millenniums- und Jahrzehntrückblickslisten angefertigt, Jahrescharts ausgefüllt und jedem der zahllosen Toten der letzten Wochen gedacht.

George Michael hat eine Platte aufgenommen. »Songs from the Last Century« heißt sie und widmet sich eben jener Kernfrage des ästhetisch interessierten Bewohners dieses Jahrtausends: Kann ich mir für meine Geschmacksentscheidungen der vergangenen Jahre auch in Zukunft noch in die Augen blicken? Habe ich die Pflöcke an den richtigen Stellen in den Wüstenboden gerammt, finde ich den Weg in die Zukunft? Was bleibt? George Michael antwortet: Las Vegas.

Und obwohl die Vorstellung, dass der Nachbau eines Teils der Innenstadt von Venedig - mitten in der Wüste, in Form des größtes Hotel der Welt, wie es in Las Vegas im Moment errichtet wird - im Unterschied zum Original-Venedig bleibt, einiges für sich hat, ist das von George Michael weniger analytisch gedacht als ganz pragmatisch. Was bleibt? übersetzt er für sich mit: Was bleibt mir? - und da liegt er mit Las Vegas ganz richtig.

Denn Michael wusste immer, wie er den nächsten Schritt seiner Karriere gehen muss, ohne ins Abseits zu stolpern. In den Achtzigern war er als eine Hälfte des Teenie-Duos Wham! einer der erfolgreichsten Popstars. Auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs lösten Wham! sich auf - nach einem Abschiedskonzert im ausverkauften Londoner Wembley-Stadion. Doch anstatt sich zur Ruhe zu setzen und den Rest seines Lebens sein Geld auszugeben, widmete sich Michael seiner Solokarriere.

1987 kam seine erste Soloplatte »Faith« heraus, von der sich prompt 15 Millionen Stück verkauften. 1990 erschien »Listen Without Prejudice Vol. 1« und war nicht minder erfolgreich. Dann war erst einmal für eine Weile Pause, da Michael Differenzen mit seiner Plattenfirma über den Fortgang seiner Karriere hatte. Schließlich verklagte er Sony, um aus seinem Vertrag herauszukommen. Der Prozess zog sich endlos hin, und George Michael konnte erst 1996 ein neues Album herausbringen, »Older«, das bisher auch sein letztes Album war, sieht man einmal von seiner »Best Of ...»-Platte vom vergangenen Jahr ab. Und so ist George Michael einer der wenigen Teeniestars, die es nicht nur geschafft haben, weiter im Geschäft zu bleiben, sondern der als Twen erfolgreicher war als zuvor. Der einzige, der ähnlich geschickt vorgeht, ist Robbie Williams, der ebenso vollendet und seines stardom bewusst Privates und Öffentliches übereinander blendet.

Und nun die Was bleibt?-Platte »Songs from the Last Century« - aus dem Jahrhundert, das wir alle kennen, und das wir einigermaßen froh sind, über die Bühne gebracht zu haben. Da gibt es eine Menge Lieder. Aber für jemanden, der sich auf die vakante Stelle des Frank Sinatra des kommenden Jahrhunderts bewirbt, schränkt sich die Auswahl ein. Es müssen Klassiker sein. Stücke, die entweder genug Pathos haben, um in große Casinosäle zu passen, oder durch genug Kehlen gewandert sind, die eben jene Casinos in Las Vegas schon beehrt haben.

»The First Time Ever I Saw Your Face« etwa fällt in die erste Kategorie. Durch Roberta Flack berühmt geworden, ist dies ein Stück, das zu covern eigentlich ein sicheres Ticket ins künstlerische Fiasko bedeutet: Aber wenn man so unsichere Kriterien abzieht wie den Umstand, dass man die historische Patina der Originale immer schon mithört, und den historischen Abstand so in den Hörgenuss einfügt - etwas, was ein neues Stück per se niemals leisten kann - muss man feststellen: Seufz, eine schöne Coverversion.

Genau wie »Brother Can You Spare A Dime«, letztere Kategorie. Ein Stück aus den Dreißigern, das damals in der Version von Bing Crosby an die Spitze der Billboard-Charts gelangte und eine Wirtschaftsdepressions-Hymne wurde, geht es doch um einen alten Arbeiter, der jetzt auf der Straße steht und betteln muss, obwohl er schon die Eisenbahnen, die Brücken und die Wolkenkratzer gebaut hat. Wobei man sich hier selbst zur Ordnung rufen muss, denn von Hunger, Dreck, Arbeitslosigkeit und Bettelei ist nichts übrig geblieben, nur die reine Form des Songs. Das hört sich an, wie Kino-Eiswerbungen aussehen, die in fiesen präfordistischen Fabriken spielen, wo man sich zu guter Letzt kaum entscheiden kann, ob der Ruß auf den Muskeln eigentlich ein Zeichen von Ausbeutung oder sexy ist. Oder beides. Vielleicht stimmt ja auch etwas mit einem selbst nicht. Mit dem letzten Jahrhundert auf jeden Fall einiges. Deshalb auch die Frage nach dem, was bleibt.

Sich selbst covert George Michael übrigens nicht, obwohl »Last Christmas« mit Sicherheit eines der Stücke ist, die bleiben werden, so lange es Weihnachten und Radio gibt. Es sind elf andere Stücke. Lauter Klassiker, von den Dreißigern bis in die Gegenwart. Damit sie eben jenen perfekten Wohlklang haben, der einen mitunter in Selbstzweifel stürzen kann, hat sie Phil Ramone produziert, ein Produzent, der auch schon für Frank Sinatra und Barbra Streisand an den Reglern gesessen hat.

George Michael hat zwar, seit er auf Solopfaden wandelt, einen Hang zum Las-Vegas-Glamour gehabt, zu Showmanship mit klassischer Größe - einige seiner Videos spielten schon mit dem morbiden Charme dieser Art von Glamour, und auch einige seiner Stücke waren ähnlich orchestriert -, aber so weit wie auf »Songs from the Last Century« hat er es noch nie getrieben. Da gibt es keine Synthesizer, nur Piano und Streicher. Das hat mit Pop nur noch wenig zu tun, eigentlich ist dies die Liga der ernst zu nehmenden Großkünstler. Und mit dieser Haltung nähert er sich auch stilistischen Makroverbrechen wie der Sexisten-Hymne »Roxanne«, wo Sting im Original einer Hure nach dem Sex zum ersten und letzten Mal sagt, sie solle diesen unmoralischen Job lassen, er könne so etwas nicht gutheißen. Doch durch die Geigen-Verklassikerung wird dies von George Michael so sehr in die Höhe gehoben, dass es sich anhört, als sei es die Szene eines Musicals. Er schmilzt den Schmerz in Schmelz um.

Genau wie in »Miss Sarajevo«, seinerzeit von U2 gemeinsam mit Luciano Pavarotti in die Charts gebracht: »Is there a time to run for cover / a time for kiss and tell / (...) Is there a time for first communion / a time for East 17«. Das ist so intim, dass man es nur alleine hören kann, schon zu zweit schämt man sich.

Bleibt das? Bleibt vielleicht nichts anderes vom vergangenen Jahrhundert, als uns übrig, die Tränen wegzuwischen?

George Michael: »Songs from the Last Century«. Virgin