»Zuflucht Shanghai«

Paris im Osten

»Café Barcelona« oder »Café Magnet« hießen die Orte, mitten in Shanghai, an die man sich zurückzog, um sich vom wenig erfreulichen Alltag zu erholen. Denn im Getto der Exilanten herrschten andere Verhältnisse: äußerster Platzmangel, heißes Wasser nur literweise, Krankheiten, keine Medikamente. 20 000 Juden, vorwiegend aus Deutschland und Österreich, flüchteten zwischen 1937 und 1941 vor den Nazis nach Shanghai, dem weltweit einzigen Ort, der kein Visum verlangte. »Zuflucht in Shanghai« von Joan Grossman und Paul Rosdy dokumentiert die jüdische Emigration nach dem »Paris des Ostens«, das auch noch unter japanischer Besatzung keine Einreisebeschränkungen verhängte. Denn ebenso wie Devisen vonnöten waren, wollte man auch die Amerikaner nicht unnötig verärgern.

Im Unterschied zu Ulrike Ottingers viel diskutiertem Film »Exil Shanghai«, der sich 1992 dieser kaum bearbeiteten Thematik widmete, beschränken sich Grossman und Rosdy auf die Zeit zwischen Ankunft und Abfahrt jüdischer Flüchtlinge, die meist 1946 China wieder verließen. Für den konventionellen und langatmigen Aufbau - vier Zeitzeugen erzählen ihre Biographie vor blauem Vorhang - entschädigen allerdings die Geschichten und das mit großer Sorgfalt zusammengetragene Archivmaterial. So werden die Interviews ergänzt durch zahlreiche Briefe, die die Berlinerin Annie Witting und der Freud-Herausgeber Adolf Josef Storfer in die Heimat schickten.

Gemeinsam mit Filmaufnahmen des Österreichers Charles Bliss, der in Shanghai ein kleines Filmstudio eröffnete, sowie eines US-amerikanischen Seemanns, zeigen sie den Alltag in einer mondänen und hungernden asiatisch-europäischen Metropole. Und vermitteln plastisch ein Leben - elegante Europäer mitten im chinesischen Straßenelend in einem der rund 60 nur von Europäern besuchten Cafés -, das sich radikal zwischen Widersprüchen aufspannte. Ein Leben zwischen dem Kampf um eine vollkommen neue Existenz und dem Entsetzen über die vorgefundenen erbärmlichen Verhältnisse.

Zehn Mark und zwei Koffer hatten die Flüchtlinge in der Regel mit an Bord nehmen dürfen. Manche verfügten über Konten in der Schweiz, die meisten aber waren auf die Hilfe des American Joint Distribution Committee angewiesen. Andererseits gelang es einigen trotzdem, an den Freiheiten des Großstadtlebens teilzuhaben. Nachmittäglich vergnügte man sich - sofern das Geld reichte - mit »Taxitänzerinnen«, ging abends ins Kabarett oder in Schwulenbars.

1943 allerdings erklärten die Japaner alle nach 1937 eingereisten Juden für »staatenlos«, verfrachten sie ins Getto, um dieses anschließend abzuriegeln. In aller Drastik zeigt der Film die mühelose Zerstörung der eben erst aufgebauten Existenzen, zeigt das absolute Ausgesetztsein der Menschen. 9 000 Juden sind vom Hungertod bedroht.

In einer kalten Nacht, so wird erzählt, werden allein 534 tote Chinesen in den Straßen gezählt. Dies wiederum ist der einzige Hinweis auf die chinesische Bevölkerung. Womit auch der problematischste Punkt des Filmes angesprochen wäre: Kein einziger chinesische Zeitzeuge kommt zu Wort. Damit aber schreiben die Filmemacher eine den Emigranten ganz selbstverständliche Ignoranz gegenüber der einheimischen Bevölkerung fort. Und dies gerät in der Aufarbeitung 50 Jahre später zur unzulässigen Nabelschau. Trotzdem: Die Dokumente lohnen die nötige Geduld und Nachsicht.

»Zuflucht in Shanghai«, Österreich/USA 1998. R: Joan Grossman/Paul Rosdy. Start: 3. Februar