Krise als Chance

Die Austragung von Interessenkonflikten hat dem Management des Status quo weichen müssen. Ein Plädoyer für einen radikalen Reformismus der Linken.

Im herkömmlichen Verständnis hatte Politik mit der Gestaltung sozialer Verhältnisse zu tun, mit Kämpfen um Interessen, gesellschaftliche Ziele und Ordnungsvorstellungen. Als demokratisch galt sie, wenn die Betroffenen in gewisser Weise daran mitwirken konnten. Unter bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen konnte davon allerdings immer nur eingeschränkt die Rede sein. Und heute wird beides fragwürdig, sowohl die Gestaltungsfähigkeit als auch der demokratische Charakter von Politik selbst im bürgerlich-liberalen Sinne. Was heute Politik heißt, reduziert sich immer deutlicher auf die mehr oder weniger effiziente Verwaltung des Bestehenden, auf Anpassung an scheinbar unbeeinflussbare Sachzwänge - seien es die einer entfesselten Technologie oder eines unkontrollierbaren Weltmarkts.

In der politischen Debatte geht es nicht mehr um alternative gesellschaftliche Ziele, nicht einmal eigentlich mehr um Interessenkonflikte, sondern um das Management des Status quo. Allerdings führt dies auch dazu, dass sich immer weniger Menschen etwas vom politischen Geschäft erwarten und die politische Bühne als eine eher mäßig unterhaltsame Sparte des medialen Showbusiness wahrgenommen wird, dass die Neigung zunimmt, das politische Personal eher nach Outfit, Sympathiewerten oder schauspielerischer »Glaubwürdigkeit« denn nach den Ergebnissen seines Handelns zu beurteilen.

Dass Politik zu einer Art Standortverwaltung verkümmert ist, hat einiges mit den gesellschaftlichen Veränderungen zu tun, die seit den siebziger Jahren im Gefolge der Krise des fordistischen Nachkriegskapitalismus zu verzeichnen sind: die als »Globalisierung« bezeichnete neoliberale Restrukturierung des Kapitalismus auf der einen, der Untergang des »realen Sozialismus« mit dem damit besiegelten Ende der Systemkonfrontation auf der anderen Seite.

Wenn damit, wie in diesem Zusammenhang formuliert wurde, tatsächlich das »Ende der Geschichte« (Fukuyama) erreicht wäre, dann bedeutete dies zugleich auch das Ende der Politik in einem emphatischeren Sinne. Wenn es keine historischen Alternativen mehr gibt, gibt es auch nichts mehr zu gestalten. Dann reicht es, die Permanenz des Bestehenden zu garantieren und den laufenden Betrieb gegen allfällige Störungen abzusichern.

Dass eben dieser Betrieb auf längere Sicht immer katastrophalere soziale Folgen produziert, gilt als ebenso bedauerlich wie unvermeidlich. So bleibt nur die Hoffnung, dass der - politisch-soziale, ökonomische oder ökologische - Ernstfall noch etwas auf sich warten lässt.

Solche Wahrnehmungen haben einen realen Erfahrungshintergrund. Dazu gehört das endgültig besiegelte Scheitern der großen gesellschaftsverändernden Projekte des 20. Jahrhunderts, d.h. des sozialdemokratisch-reformistischen wie des autoritär-staatssozialistischen Versuchs, die Gesellschaft mit Hilfe des Staates umzugestalten. Und es besteht ein scheinbares Paradox: Die Staaten, die mit einer gewissen Fähigkeit zur interventionistischen Regulierung keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Typs im Zuge der Durchsetzung des Fordismus als ökonomisch wie sozial integrative »Nationalstaaten« im zwanzigsten Jahrhundert materiell gewissermaßen zu sich selbst gekommen waren, schränken nun im Zuge der neoliberalen »Globalisierung« ihre politischen Spielräume und Gestaltungspotenziale selbst wieder ein.

Dieser Rückzug der Staaten im Sinne eines lean management der Gesellschaft war eine entscheidende Voraussetzung für die Reorganisation der Verwertungsbedingungen und Klassenkräfteverhältnisse nach der Krise des Fordismus. Damit wurden aber zugleich die Möglichkeiten, mittels staatlicher Politik die Gesellschaften zusammenzuhalten und zu gestalten, erheblich verringert.

Bestandteil dieses Transformationsprozesses ist eine Internationalisierung des Staates, die sich in der zunehmenden Verlagerung relevanter politischer Entscheidungen in ein komplexes System internationaler politischer Organisationen und Institutionen und in einer direkten Anbindung relevanter Teile der Staatsapparate an die Interessen internationaler Kapital- und Finanzmärkte und deren Institutionalisierungsformen (WTO, IWF, Weltbank, G7 usw.) äußert.

Politik wird heute im Wesentlichen von den Finanzministerien und Zentralbanken gemacht. Auch dies ist ein Grund dafür, dass entscheidende Politik-Felder in den üblichen Wegen und Verfahren, also mittels demokratischer Wahlen und parlamentarischer Gesetzgebung, praktisch kaum mehr beeinflusst werden können. Als Folge umfassender Privatisierungsprozesse und der wachsenden Macht des multinationalen Kapitals verlagern sich gleichzeitig politische Entscheidungen immer stärker in undurchsichtige staatlich-private Verhandlungssysteme, die von den formalisierten demokratischen Prozessen weitgehend abgekoppelt sind.

Dies verbindet sich schließlich mit der Entstehung eines unipolaren Weltsystems, das von der Vorherrschaft einer kleinen Gruppe von Metropolen unter der Führung der USA über die schwachen Staaten der Peripherie gekennzeichnet ist. Damit werden die politischen Bewegungsspielräume auf einzelstaatlicher Ebene insgesamt noch weiter eingeschränkt. Es entstehen neue Formen von Konflikten: Bürgerkriege, »ethnische« Gemetzel, »humanitäre« Militärinterventionen zur Sicherung der Interessen der starken gegen die schwachen Staaten auf der einen, »Fundamentalismus« und »Terrorismus« auf der anderen Seite.

War der traditionelle Politik-Begriff wesentlich auf den modernen, im Prinzip als souverän gedachten Nationalstaat bezogen, so verliert er auch von daher seine Grundlage. War bislang die Anarchie der Staatenwelt das bestimmende politische Organisationsprinzip des globalen Kapitalismus, so tritt an deren Stelle jetzt die Anarchie eines von komplizierten Konflikten und Gegensätzen durchzogenen, quasi weltumspannenden Imperiums, das von einem hierarchisch strukturierten Geflecht von Staaten, internationalen Organisationen, multinationalen Konzernen und nicht zuletzt auch kriminellen Organisationen mafiösen Typs kontrolliert wird.

Zusammengenommen führt dies zu einer Aushöhlung der liberaldemokratischen Institutionen, die angesichts schwindender politischer Spielräume und einer scheinbaren Alternativlosigkeit der Politik inhaltlich leer laufen. Es scheint in der Tat so, als ginge mit dem 20. Jahrhundert auch die Ära der bürgerlich-liberalen Demokratie zu Ende.

Krise der Repräsentation und die Medialisierung von Politik

Die abnehmende Gestaltungsfähigkeit staatlicher Politik, verbunden mit wachsenden gesellschaftlichen Ungleichheiten und Fragmentierungen, mündet in einen Zustand, den man als eine tief greifende Krise der Repräsentation bezeichnen kann. Johannes Agnoli hatte schon Ende der sechziger Jahre in Bezug auf die fordistischen »Volksparteien« von der Entstehung einer »virtuellen Einheitspartei« gesprochen, innerhalb deren Auseinandersetzungen über die Ordnung und Entwicklung der Gesellschaft zu Gunsten eines bloßen Herrschaftskonflikts konkurrierender politischer Funktionärskader verschwinden. Diese virtuelle Einheitspartei ist inzwischen sehr real geworden. Sie präsentiert sich als eine in Habitus und Bewusstsein weitgehend uniforme, vorrangig an materiellen Pfründen und Karrieren orientierte, parteiübergreifend ihre privaten Interessen verfolgende und insoweit in der Tat ideologiefreie »politische Klasse« staatstragender Kräfte.

Für sie ist Politik nicht mehr ein »Beruf« im Sinne Max Webers, sondern Job, Karrierevehikel und im schlechteren Fall pure private Bereicherungsmöglichkeit. Hatte Joseph Schumpeter die liberale Demokratie - ihren Gehalt hellsichtig auf den Begriff bringend - noch als Kampf konkurrierender Eliten um plebiszitäre Zustimmung definiert, so scheint diese Elitenkonkurrenz nun in einem faktischen Monopol aufgegangen zu sein.

Damit ist ein System struktureller Korruption entstanden, in dem die Begriffe »links« und »rechts« tatsächlich keinen Sinn mehr machen. Die politischen Orientierungspunkte der regierenden Klasse sind kaum mehr gesellschaftspolitische Ziele, nicht einmal mehr die Interessen spezifischer WählerInnengruppen, sondern die pure Sicherung der eigenen Position und des eigenen Fortkommens. Wahlen und WählerInneninteressen werden dabei tendenziell zu Störfaktoren des politischen Normalbetriebs, die es taktisch zu manipulieren, auszusitzen oder im Rahmen diskursiver Manöver nach Möglichkeit zu neutralisieren gilt.

Wachsende gesellschaftliche Notlagen, Diskriminierungen und Fragmentierungen gilt es weniger auszugleichen als den Betroffenen gegenüber als unvermeidlich, eben als »Sachzwang« zu vermitteln. Die vor recht kurzer Zeit noch weitgehend geteilte Erkenntnis, dass auch die liberale Demokratie ein gewisses Maß an sozialer Gleichheit und Sicherheit zu ihrer Bestandsbedingung hat, ist der Leitformel gewichen, dass Ungleichheit Leistung und diese wiederum Wachstum erzeuge, ungeachtet des Umstands, dass die Explosion der Profite und die Akkumulation des Kapitals schon längst nicht mehr mit steigendem Massenwohlstand einhergeht. Das Gegenteil ist der Fall.

Mit dem Management dieser »Sachzwänge« vollauf beschäftigt, bezieht die politische Klasse ihre Legitimation somit immer stärker aus der Herstellung einer virtuellen Diskurswelt, die angesichts der herrschenden ökonomischen und politischen Verhältnisse mit einiger Notwendigkeit mit rassistischen, nationalistischen und wohlfahrtschauvinistisch-populistischen Momenten bestückt ist.

Fehlende materielle Integration und Interessenberücksichtigung wird mit medial produzierten Feindbildern (AusländerInnen, Sozialschmarotzer, »organisierte Kriminelle«) und Appellen an die dumpfe Solidarität der im globalen Maßstab real oder vermeintlich »Besserverdienenden« kompensiert. Damit verliert die liberale Demokratie ihre universalistischen und emanzipativen Bedeutungsgehalte noch mehr. Sie ist nicht mehr sozialer Prozess und Feld von Auseinandersetzungen um Freiheit und Gleichheit, sondern wird zum politisch-institutionellen Korsett des gesellschaftlichen Status quo.

Auf diese Weise transformieren sich insbesondere die Metropolen-Demokratien noch stärker in soziale Apartheidsregime, die sich in der militanten Abwehr derer erschöpfen, die noch bestehende Privilegien bedrohen könnten. Der Verzicht darauf, an reale Bedürfnisse und Interessen zu appellieren und damit demokratische Gegenmacht zu mobilisieren, macht die politische Klasse zugleich um so abhängiger von denen, die über die wirkliche Macht verfügen.

Abgekoppelt von den realen Interessenlagen einer sozial immer stärker fragmentierten Gesellschaft, orientiert an selbst geschaffenen Sachzwängen und den Privatbedürfnissen einer sich verselbstständigenden »politischen Klasse«, gerät Politik damit zur medialen Inszenierung, gerinnt zum bloßen Diskurs und unterwirft sich damit zugleich immer stärker den Funktionsmechanismen einer kommerzialisierten Kultur- und Massenkommunikationsindustrie. Die ehemaligen Volksparteien vermitteln nicht mehr, wie noch im Fordismus, eine materiell abgestützte Massenintegration, sondern sind so etwas wie mediale Staatsapparate geworden.

Statt politischer Gebrauchswerte verkaufen sie auf dem Stimmenmarkt vornehmlich politische Warenfetische. Die politischen Diskurse verhalten sich zum materiellen Gehalt der Politik wie das Versprechen von Freiheit und Abenteuer zum realen Inhalt der Zigarettenpackung. Was zählt, ist die Präsentation, entscheidend ist die Verpackung.

Taugen sie nichts, gibt es ein »Vermittlungsproblem«. Dieser inzwischen zum Standardvokabular gewordene Begriff charakterisiert bemerkenswert klar das Politik-Verständnis der herrschenden Sachzwang-Demokratie. In der Konkurrenz der Parteiapparate geht es zuallererst um werbetechnische Produktdifferenzierung und um die Veranstaltung quotenträchtiger Schaukämpfe, deren Präsentationsweise das grundlegende Einverständnis der Kontrahenten schlecht verbirgt. Wahlversprechen können eigentlich gar nicht gebrochen werden, weil sie gar nicht ernsthaft gemeint sind - stehen sie doch immer schon unter dem Vorbehalt des Standortmanagements. Dass Wahlsieger ihre Ankündigungen schnell wieder einkassieren, gilt als selbstverständlich.

Was ein Bundeskanzler isst, trägt und raucht, ist wichtiger als das, was er tut, es sei denn, er macht dabei Präsentationsfehler. Dann sind die Propaganda-Abteilungen und Politik-Stylisten gefordert. Die Manager der Sachzwänge reden permanent von Verantwortung, die sie nach ihrem eigenen Verständnis gar nicht haben können. Deshalb entschuldigen sie sich eben, wenn etwas schief gegangen ist, um anschließend ebenso wie vorher weiterzumachen. Die Verantwortungsgesellschaft mündet somit sozusagen nahtlos in die Entschuldigungsgesellschaft. »Soziale Opfer« werden ebenso bedauert wie sonstige »Kollateralschäden«, angezettelte Kriege mit Krokodilstränen beweint.

In der BRD ist die rot-grüne bundesrepublikanische Regierung offenkundig angetreten, diesen Wandel des Politikbegriffs perfekt zu machen. Sie hat es geschafft, die Medialisierung der Politik im Sinne einer systematischen Entkoppelung von politischem Diskurs und politischer Praxis auf die Spitze zu treiben. Ein Beispiel dafür ist der Kosovo-Krieg. Hier wurde mit einem betroffenheitsschwangeren demokratisch-menschenrechtlichen Moral-Diskurs überaus erfolgreich verschleiert, weswegen die Bomben wirklich fielen: nämlich wegen der Sicherung der bestehenden OECD-Weltordnung und der Kontrolle geostrategischer Einflusszonen im Konflikt der herrschenden Blöcke. Deshalb sind die heute Regierenden als Diskurs-Spezialisten im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen durchaus auch an kritischen Diskussionen interessiert und fördern sie sogar.

Das Außenministerium zum Beispiel unterhält ein Forum »globale Fragen«, auf dem PolitikerInnen, Sachverständige, WissenschaftlerInnen und natürlich die einschlägigen »Nichtregierungsorganisationen« einen durchaus offenen und kritischen Diskurs über die anstehenden - und selbst zumindest mitverursachten - Weltprobleme pflegen, um den sich der Rest des ministerialen Apparats freilich nicht zu kümmern braucht. Die Regierung beschäftigt sogar einen eigenen Menschenrechtsbeauftragten, was sie indessen nicht daran hindert, aus geostrategischen Interessen heraus dem türkischen Folter-Regime Panzer zu liefern und eine Asyl- und Migrationspolitik mit barbarischen Zügen zu betreiben.

Damit ist der heute regierenden politischen Formation das gelungen, was ihre liberalkonservative Vorgängerin nicht schaffen konnte und woran sie am Ende gescheitert ist: die Durchsetzung einer neuen Hegemonie, deren Logik darin besteht, die Politik der neoliberalen Restrukturierung und des Wettbewerbsstaats mit einem moralisierenden, faktische Macht-, Gewalt- und Unterdrückungsverhältnisse ausblendenden Menschenrechts- und Demokratie-Diskurs zu verbinden. Sie hat es geschafft, ehemals oppositionelle Kräfte und Milieus einzubinden und politisch-intellektuell zu neutralisieren. So etwas nennt man die Schaffung von Hegemonie durch passive Revolution und Intellektuellenkooptation.

Der realpolitisch gewendete grüne Koalitionspartner mit seiner intellektuellen Klientel spielt bei dieser diskursstrategischen Wende eine zentrale Rolle. Voraussetzung dafür war, »Demokratie« und »Menschenrechte« quasi wohlstandschauvinistisch zum Inbegriff der metropolitanen Produktions- und Lebensweise einschließlich ihrer ökonomischen und machtpolitischen Grundlagen umzudefinieren. Im herrschenden öffentlichen Diskurs bezeichnen diese Begriffe schlicht das, was der imperiale Verbund der »OECD-Welt« praktiziert und eben dies legitimiert seine Selbstmandatierung zur jenseits jedes kodifizierten Völkerrechts stehenden Weltpolizei.

Die Krise als Chance?

Entgegen den Ankündigungen ihrer wissenschaftlichen und politischen Propagandisten hat die kapitalistische Restrukturierungsstrategie der neoliberalen Globalisierung kein neues »Goldenes Zeitalter« ähnlich dem des Fordismus um die Mitte des 20. Jahrhunderts entstehen lassen. Dieser war ohnehin ein historischer Ausnahmefall, der nicht zuletzt der mit der russischen Oktoberrevolution entstandenen Systemkonkurrenz geschuldet war. Die Welle »arbeitssparender« Rationalisierungen und die Verschiebung der Einkommensrelationen im globalen Maßstab mit der Folge einer fortschreitenden Verarmung führt zu einer strukturellen Überproduktionskrise, die sich in deflationären Tendenzen und in einer immer deutlicheren Verselbstständigung des spekulativen Finanzkapitals äußert.

Diese wiederum verstärkt unter dem Diktat des Shareholder-Value-Prinzips den industriellen Rationalisierungsdruck. Die kapitalistische Expansion vollzieht sich in immer bedeutsamerem Maße durch Großfusionen, deren hauptsächlicher Zweck Rationalisierung und die Kontrolle von Märkten ist. Im Gegensatz zum ständigen Gerede von Wettbewerb und Leistung war der Monopolkapitalismus noch niemals so perfekt ausgeprägt wie heute.

Die strukturelle Entkoppelung von Wachstum und Beschäftigung hat zu einer Situation geführt, in der explodierende Unternehmensprofite nur noch mit Mühe als Bedingung allgemeinen Wohlstands gerechtfertigt werden können. Damit werden aber die materiellen Grundlagen des Legitimationszusammenhangs unterminiert, der den »Sieg« des Kapitalismus im Wettlauf der Systeme mitbegründet hatte.

Die Erosion der »National»-Ökonomien im Zuge der postfordistischen Internationalisierung des Kapitals hat nicht nur den Begriff der »nationalen« Politik, sondern den der »Gesellschaft« überhaupt fragwürdig werden lassen. Er bezeichnet jedenfalls ein immer stärker sozial und politisch hoch fragmentiertes und heterogenes Gebilde. Dies zeigt sich in der wachsenden Ungewissheit bezüglich dessen, was angesichts der wachsenden sozialen Spaltungen und Fraktionierungen eigentlich unter dem politischen »Volk« im Sinne eines zu kollektiven Entscheidungen fähigen demokratischen »Demos« verstanden werden sollte.

Dass nationalistische Strömungen und Orientierungen sich umso stärker bemerkbar machen, je mehr die »Nation« ihre ökonomische und soziale Grundlage verliert, ist nur scheinbar paradox. Dies ist auch nicht nur eine Folge von Orientierungsschwierigkeiten und »Identitätsproblemen«, sondern gewinnt angesichts abnehmender materieller gesellschaftlicher Integrationsmöglichkeiten auch eine wachsende Bedeutung als Herrschaftsinstrument. Auf jeden Fall ist das viel beschworene nationalstaatliche gemeinsame Boot längst leck geschlagen. Es dient nicht mehr der Reise in bessere Gefilde, sondern erscheint in der stürmischen See der globalisierten Ökonomie ein gegen alle möglichen Arten von Schiffbrüchigen entschlossen zu verteidigendes Rettungsboot, das im besten Fall noch ein paar relative Privilegierungen zwar nicht garantiert, aber wenigstens verspricht.

Die globale Freisetzung von Arbeitskräften sowie zunehmende soziale Ungleichheit und Verarmung führen zu einer wachsenden Informalisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse mit der Folge, dass Drittwelt-Zustände auch in den kapitalistischen Metropolen zur Normalität geworden sind. Natürlich geht dabei »die Arbeit« nicht aus, ist doch deren Ausbeutung durch das Kapital die grundlegende Basis der bestehenden Gesellschaft.

Sie erfährt jedoch einen tief greifenden Wandel, etwa dergestalt, dass sich das kapitalistische Ausbeutungsverhältnis zunehmend weniger auf formalisierte Lohnarbeit und immer mehr auf (schein-) selbstständige Arbeit und vielfache Formen ungesicherter Beschäftigungsverhältnisse in den sich ausweitenden informellen Sektoren stützt.

Diese dienen als Märkte für banalisierte Massenkonsumgüter ebenso wie als flexibel nutzbares Reservoir billiger und williger Arbeitskraft, als Arbeitslosenzwischenlager ebenso wie als ökologische oder soziale Mülldeponie. Zweifellos ist es so, dass unter dem postfordistischen Akkumulationsregime immer mehr Menschen für den kapitalistischen Verwertungsprozess überflüssig werden und nicht einmal mehr in den Genuss eines einigermaßen geregelten Ausbeutungsverhältnisses kommen.

Gegen eine romantisierende Sichtweise von »Subsistenzökonomie« und »informellem Sektor« bleibt aber festzuhalten, dass diese Bereiche keineswegs einfach vom kapitalistischen Reproduktionszusammenhang abgekoppelt sind, sondern in spezifischer Weise dessen Grundlage darstellen. Waren unbezahlte Hausarbeit und nicht reproduktionssichernde, insbesondere weibliche Lohnarbeit immer schon ein entscheidender Bestandteil des Kapitalverhältnisses, so nimmt diese »Hausfrauisierung« der Arbeit in neuen Formen deutlich zu. Die Logik des postfordistischen Akkumulations- und Regulationszusammenhangs besteht nicht zuletzt darin, die Grenzen zwischen der formellen Lohnarbeit in den privilegierten Kernbereichen und den unterschiedlichen »informellen« Sektoren sowohl zu befestigen als auch durchlässig und fließend zu halten.

Allerdings beinhaltet die Tatsache, dass immer mehr Menschen ökonomisch marginalisiert und aus dem formalisierten Verwertungszusammenhang ausgeschlossen werden, zugleich einen historisch neuen politisch-sozialen Krisenzusammenhang: Je weniger das Kapitalverhältnis Arbeit und Lebensunterhalt garantiert, desto mehr macht sich das Kapital systemimmanent überflüssig. Deshalb führen die desaströsen sozialen Folgen der so genannten Globalisierung zu einer immer deutlicheren hegemonialen Krise des Neoliberalismus.

Was ihn immer noch ideologisch stabilisiert und legitimiert, sind nicht die praktisch längst dementierten Versprechen auf eine bessere und friedlichere »Weltgesellschaft«, sondern die Schwierigkeit, unter den veränderten Bedingungen des globalisierten Kapitalismus und angesichts des Scheiterns der traditionellen staatssozialistischen und sozialdemokratischen Konzepte konkrete gesellschaftspolitische Alternativen zu entwerfen. Dies verbindet sich mit der Tatsache, dass sich neoliberale Denk- und Verhaltensweisen nach dem Ende des sozialdemokratischen Zeitalters in fast allen gesellschaftlichen Milieus festgesetzt haben und dass die gesellschaftlichen Ungleichheiten und Spaltungen sowie die Mobilisierung des Kampfs aller gegen alle die Formulierung einer politischen Gegenposition erheblich erschweren.

Andererseits kann man vermuten, dass die inzwischen erfolgreich in weiten Schichten und Milieus durchgesetzten »neoliberalen« Bewusstseins- und Verhaltensformen eine eigene Widersprüchlichkeit entwickeln. Der strategische Rückzug des Staates als materiell gesellschaftsintegrierende Instanz unterminiert auch die Staatsillusion und die Auflösung materieller gesellschaftlicher Zusammenhänge schwächt nationale Identifikationen als Grundlage bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft. Die Freisetzung der Menschen als »selbstverantwortliche« Marktsubjekte kann auch ihr Streben nach Freiheit und Autonomie verstärken, der Zwang zu extremer Mobilität und zu fortwährender Weiterqualifikation nicht nur ihre Verwendbarkeit als Arbeitskräfte, sondern auch die politisch-sozialen Fähigkeiten zur Selbstbestimmung vergrößern.

Und schließlich werden diejenigen, die vom Kapital überhaupt nichts mehr zu erwarten haben, früher oder später zur Entwicklung eigener Lebens- und Reproduktionsformen gezwungen werden. Die vom neoliberalen Projekt in Gang gesetzten Prozesse der Individualisierung und Spaltung werden sich somit nicht notwendig in funktionalen Bahnen halten, sondern könnten eine eigene politische und soziale Dynamik entwickeln.

Die Notwendigkeit eines neuen Politikbegriffs

Diese »reformistischen« Debatten kreisen bislang sehr stark um Konzepte einer Wiederherstellung funktionierender Nationalökonomien und Nationalstaaten, manchmal ergänzt um Überlegungen zu einer etwas demokratisierten »global governance«. Dem liegt die Vorstellung zu Grunde, die fordistischen Strukturen staatlicher Regulation auf nationaler wie internationaler Ebene könnten in irgendeiner Weise wiederhergestellt werden. Dabei bleiben die Ursachen für die Krise des fordistischen Kapitalismus und - damit zusammenhängend - das Scheitern staatsreformistischer Politiken weitgehend unberücksichtigt.

Ebenso unerkannt bleibt, dass die neoliberale Restrukturierung keineswegs einen historischen Betriebsunfall, sondern die Rückkehr zur kapitalistischen Normalität nach dem Ende der revolutionären und reformistischen Massenbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts darstellt. Es wird vergessen, dass tief greifende Krisen ein Strukturmerkmal des Kapitalismus sind und diese gesellschaftliche Formation eine Dynamik aufweist, die eine fortwährende Umwälzung ihrer ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse einschließt.

Nimmt man dies alles ernst, so stellt sich die Frage, ob kritisches politisches Denken heute die traditionellen - das heißt staatlichen - Kategorien, die Identifizierung von »Politik« und »Staat«, von gesellschaftlicher Macht und Staatsmacht nicht grundsätzlich zu überschreiten hätte, ob emanzipatorische Politik tatsächlich auf so etwas wie eine Verbesserung des Staates zielen sollte.

Wohl kaum. Angesichts der Folgen des neoliberalen Restrukturierungsprojekts steht vielmehr eine gründliche Revision des Politik-Begriffs an. Es geht dabei um die immer noch herrschende Identifizierung von Politik und Staat, das Denken in den fundamental bürgerlichen Kategorien von Staat und Nation, von Privat und Öffentlich, von Politisch und Unpolitisch, von Repräsentation und Stellvertretung.

Das Scheitern der revolutionären und reformistischen Staatsprojekte des 20. Jahrhunderts wirft ohnehin die Frage auf, ob Gesellschaften planmäßig-strategisch, von einem Zentrum aus emanzipativ verändert werden können oder - wegen des im Prinzip autoritären Charakters solcher Vorhaben - überhaupt sollten. Wenn im Zuge der aktuellen ökonomisch-politischen Entwicklung die spezifisch bürgerlich-kapitalistische Form des Politischen - die »Besonderung« des Staates gegenüber der Gesellschaft, die Trennung von »Privat« und »Öffentlich«, die relative Autonomie des Staates auch gegenüber den ökonomisch herrschenden Klassen fragwürdig wird und es damit zu einer Art Reprivatisierung des Politischen kommt, müssen traditionelle Orientierungen revidiert werden.

Der Nationalstaat transformiert sich zum Bestandteil eines transnationalisierten politischen Apparategeflechts, das im Wesentlichen der Exekution ökonomischer »Sachzwänge« und den Interessen weltumspannender Finanzgruppen verpflichtet ist. Damit wird er aber als institutioneller Ansatz- und Bezugspunkt demokratischer Politik vollends unbrauchbar. Diese Entwicklung ist angesichts der Schranken, die eine kapitalistisch-nationalstaatlich verfasste Gesellschaft einer wirklichen demokratischen Selbstbestimmung strukturell setzt, nicht unbedingt zu bedauern. Im Gegenteil: Die Krise des Staates und der politischen Repräsentation kann durchaus auch eine Chance beinhalten.

Auf der Tagesordnung steht heute ein »radikaler Reformismus«, der emanzipative gesellschaftliche Veränderungen nicht mittels der Staatsmacht, sondern durch gesellschaftliche Initiative, durch praktische Durchsetzung neuer Produktions- und Lebensformen und die Schaffung politischer Organisationszusammenhänge unabhängig und gegen die herrschenden institutionellen Strukturen anzielt.

Die Entgegensetzung von »institutioneller« und »autonom-außerinstitutioneller« Politik, wie sie in den aktuellen linken Diskussionen immer wieder aufscheint, ist allerdings schlecht abstrakt. Natürlich ist staatliche Politik auf einzelstaatlicher und internationaler Ebene ernst zu nehmen, weil sie Bedingungen schafft, Zwänge setzt und entscheidende Gewaltpotenziale zu ihrer Verfügung hat. Dies kann jedoch nicht heißen, sich auf staatsförmiges und wesentlich auf die staatlichen Institutionen gerichtetes Handeln zu beschränken und damit auch deren Spielregeln zu akzeptieren. Dies reproduziert nur die bestehenden Strukturen von Herrschaft und Ausbeutung.

Entscheidend ist vielmehr, eigenständige und vor allem international verbundene Strukturen und Gegenmachtpositionen, soziale Praxiszusammenhänge, Öffentlichkeiten und Organisationsformen zu entwickeln. Erst dies vermag die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wirklich zu verändern und erzeugt damit notwendigerweise Konflikte innerhalb der herrschenden Apparate, die Spielräume und Einflussmöglichkeiten eröffnen. Institutionelle Politik, in den und gegen die Staatsapparate(n), bedarf einer eigenen politisch-sozialen Basis. Bloße Kampagnen und punktuelle Mobilisierungen reichen nicht aus.

Wenn, global gesehen, ein immer größerer Teil der Menschen vom Kapital nicht einmal mehr als Ausbeutungsobjekt gebraucht und von den Staaten sich selbst überlassen, bestenfalls noch als Objekt von Überwachung, Kontrolle und interventionspolizeilicher Aufstandsbekämpfung behandelt wird, erscheint es illusorischer denn je, an den Staat zu appellieren oder ihn in den vorhandenen Strukturen demokratisch renovieren zu wollen. Die Alternative dazu ist allerdings nicht einfach. Gefordert ist eine tief gehende Veränderung von Produktions- und Lebensweisen, von Konsum-Mustern, der herrschenden Vorstellungen von einem »guten Leben«, der Konzepte von Fortschritt und Entwicklung.

Statt das Ausgehen der Arbeit zu beklagen, käme es darauf an, zu realisieren, dass die wachsende Arbeitslosigkeit das Produkt einer kapitalistischen Rationalisierungsstrategie ist, die die Zerstörung der menschlichen Naturgrundlagen zu ihrer Voraussetzung hat, dass die hochrationell produzierte kapitalistische Warenfülle immer deutlicher zu Lasten wirklicher Lebensqualität geht. Nicht die Arbeit geht aus, sondern sie wird unter dem Diktat des Kapitalverwertungsprozesses falsch getan, einem Diktat, das verhindert, dass dringend notwendige Arbeiten geleistet werden können, während gleichzeitig mit immer mehr werbetechnischem und menschlichem Aufwand Schrott produziert wird. Es kommt darauf an, den konsumistischen Zirkel zu durchbrechen, der diese Verhältnisse stabilisiert.

Kurzum: Es geht immer noch um das, was die alt gewordene, mittlerweile zu einer postmodernen Neo-Bourgeoisie herangereifte »Neue Linke« geflissentlich vergessen hat: um eine tief greifende Kulturrevolution, nicht nur eine der Bewusstseinsinhalte, sondern vor allem der ihnen zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Beziehungen und materiellen Praktiken.

Bei der sich als radikal verstehenden Linken besteht indessen die Tendenz, Politik immer stärker auf diskursive Kämpfe zu reduzieren und damit die herrschende Trennung von politischem Diskurs und politischer Praxis selbst noch einmal zu reproduzieren. Es reicht, um das bekannte Marx-Zitat abzuwandeln, nicht aus, kritisch zu kritisieren, sondern es kommt darauf an, die Welt praktisch zu verändern.

Neue politisch-soziale Praxiszusammenhänge entwickeln sich allerdings im Zuge der laufenden Prozesse der gesellschaftlichen Desintegration, der Marginalisierung und Informalisierung keineswegs naturwüchsig. Es bedarf dazu der Schaffung von eigenen Organisationszusammenhängen und Öffentlichkeiten, die helfen, die ausufernden Individualisierungs- und Fragmentierungstendenzen und den organisierten Kampf aller gegen alle im globalen Maßstab zu überwinden, historische und praktische Erfahrungen aufzuarbeiten, Interessengegensätze und divergierende gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen konkret und praktisch zu konfrontieren.

Die Trennung von »politischer« und »sozialer« Bewegung, etwa im Vergleich der ehemaligen nationalen Befreiungsbewegungen in der Peripherie und den »neuen sozialen Bewegungen« in den Metropolen muss in der Weise aufgehoben werden, dass die Entwicklung autonomer Organisationszusammenhänge und Politikstrukturen sich mit dem Projekt einer Revolutionierung des Alltags verbindet.

Zukunftsweisend ist deshalb ein neuer Typ von politisch-sozialer Bewegung, wie er sich ansatzweise bei den mexikanischen Zapatistas oder den brasilianischen Sem Terra, aber nicht nur dort, herausgebildet hat. Solche Ansätze und Bewegungen müssen sich zunächst dezentral, auf lokaler und regionaler Ebene entwickeln, im konkreten Erfahrungszusammenhang und unter jeweils spezifischen Bedingungen. Nachhaltig politisch wirksam werden sie nur werden, wenn es gelingt, sie zu verbinden, neue und selbstorganisierte politisch-gesellschaftliche Kooperationszusammenhänge zu schaffen, die es ermöglichen, Formen solidarischen Handelns im globalen Maßstab zu entwickeln.

Statt den Staat zu verbessern und die kapitalistische Globalisierung gestalten zu wollen, kommt es darauf an, einen anderen, unmittelbaren, praktischen Politikbegriff wirksam werden zu lassen. Kurz: Es bedarf einer Verbindung von politischer und sozialer Befreiung, die von konkreten Erfahrungen und konkreten Lebensverhältnissen ausgeht und zugleich nationale und partikularistische Schranken überwindet.