Männer mit Schwänzen

Aus der weißen bürgerlichen Kultur ist es verschwunden, aus dem Soul noch nicht: Das glückliche männliche Komplett-Individuum.

Alle lieben Motown. Ob die Temptations, die Supremes, Smokey Robinson & The Miracles, Marvin Gaye oder Stevie Wonder - Motown ist der kleinste gemeinsame Nenner popmusikalischen Geschmacks. Alle lieben Motown, denn zumindest die Motown-Produktionen der Sechziger waren Popmusik vor dem Sündenfall. Teenage-Sinfonien, die großen und kleinen Gefühle in drei Minuten. Perfekt produzierte Adoleszenz-Dramen. Das ist lange her.

Motown gibt es immer noch, und Montell Jordan ist der Gastgeber einer Fernsehshow, die »Motown Live« heißt. Ansonsten heißt Soul aber R'n'B und ist nach dem Tod von Rock und dem Siegeszug elektronischer Musik das letzte übrig gebliebene Genre, das sich der Seele widmet und die Zustände des Körpers nicht nur als chemisch induziert betrachtet. Im R'n'B ist der Mensch noch Mensch, der Mann noch Mann und die Frau noch Frau.

Bei Montell Jordan zum Beispiel. Über Liebe kann man nur auf Englisch singen, hieß es einmal, und man darf hinzufügen, über Sex kann nur Montell Jordan singen. Nun ist R'n'B aber nicht Rock, und wenn sich hier ein Mann zum Thema Sex äußert, dann hat das wenig mit Pubertät und Sie-will-nicht zu tun, noch weniger mit Postpubertät und Wir-haben-keine-Angst-vor-Frauen-und-anderen-Monstern, es geht auch nicht darum, irgendjemandem etwas beweisen zu müssen - dass mann sie alle haben kann etwa.

Bei Montell Jordan geht es um etwas anderes: Um den gereiften Mackermann nämlich, das heterosexuell-bürgerliche Komplett-Individuum mit der Fähigkeit, das Leben zu genießen. Es geht also um den Mann, den es, wenn man Michel Houellebecq Glauben schenken darf, als weiße abendländische Variante gar nicht mehr gibt. Der gebrochen, ratlos und deshalb zu nichts mehr zu gebrauchen ist; der nur noch weiß, was er alles nicht kann, und mit den derart verformten Restbeständen seiner Seele um die Häuser zieht und dabei keine Freude anzuschauen ist. Als Original somit nicht einmal mehr ein Schatten seiner selbst, taucht das bürgerliche Komplett-Individuum in der afro-amerikanischen Popkultur wieder auf. Nicht dass Montell Jordan besonders hübsch wäre, aber er strahlt so überzeugend die gelassene Ruhe desjenigen aus, dem alles gelingt, dass es ihm auch gelingt, uns genau das glauben zu machen.

»Let me know / How It feels / When I'm inside of you / Every time I hear you say my name / Scream and moan / I know we're getting closer to / The moment that we / Can't stop cause it's getting / Too hot, all the freaky things you do / Say to me / Show me you like it / What's it feel like / When I'm sexin' you / When I'm inside / Is it good to you«. So geht es zu in »What's it feel like? Is it good?«, und was soll man sagen. Das ist Musik von Männern, die noch Schwänze haben.

»Get It On ... Tonite« ist Jordans viertes Album, und viel hat sich nicht geändert. »This Is How We Do It« hieß das erste, »More to Tell« das zweite, »Let's Ride« das dritte: Programmatische Titel allesamt. Aber wer jetzt das wilde Leben wittert und mitmachen möchte, sei vorgewarnt - Montell Jordans Musik ist hochgradig familienfreundlich, er selbst verheiratet, sein fünfjähriger Sohn Sydney leitet die Platte ein, indem er ankündigt, jetzt komme eine tolle Party. Denn sexuelle Großstechereien hin, teure Anzüge her, am Ende des Tages ist die schöne Oberfläche doch vor allem ein Geschäft, und das führt man, um die Familie zu ernähren.

Aber was für eine Oberfläche. Zwei Seiten hat die Platte, eine »For those who like it fast« - also die niggaz - und eine »For those who need it slow« - also die honeyz. Die erste Hälfte ist »for the party« und die zweite »for the afterparty«. Und wer den ersten Teil ohne honey verlässt, für den wird der zweite nicht funktionieren. Montell Jordan macht Musik wie eine imaginäre Zusammenfassung eines imaginären Abends. Musik wie die Tapete einer Innenstadtwohnung am späten Sonntagvormittag, wo gutgebaute Männer in Unterhemden im Badezimmer stehen und sich rasieren, während sie den vergangenen Abend Revue passieren lassen und ihre Frauen noch einen Augenblick im Bett bleiben und sich in der Seidenbettwäsche räkeln. Das ist Musik für Menschen, die zum Ausgehen keine Turnschuhe tragen, dafür aber im Fitness-Studio.

Ganz so klassisch geht es bei Sisqo nicht zu. Hier wird noch ganz romantisch an der Überschreitung gearbeitet. Deshalb auch der Drache, der als Tätowierung Sisqos Brust ziert und auch sonst durch die Symbolik seiner Gruppe Dru Hill geistert. »Unleash the Dragon« heißt Sisqos Soloplatte, »Enter the Dru« hieß das letzte Dru-Hill-Album, und mit ihrem Stück »How Deep Is Your Love« brachten sie vor zwei Jahren all das auf eine Formel, was Mann und Frau bewegt, solange man noch nicht verheiratet ist, all die Fragen, die man nie zu fassen bekommt, deren Antworten sich schon im Ansatz in Detailproblemen verlieren und die man zu guter Letzt eben doch darauf reduzieren kann, wie tief denn die Liebe jetzt sein mag.

Zwar waren Dru Hill zu viert, doch eigentlich war Sisqo schon in der Gruppe die Hauptfigur, eine Art Ol' Dirty Bastard des R'n'B, begnadet mit der Fähigkeit zu markdurchdringenden Schreien und in den Videoclips immer wieder auffällig durch gewagte Sprünge. Neben dem Drachen auf der Brust trägt Sisqo weiße Haare auf dem Kopf und einige Juwelen an Hals und Handgelenk.

Und ähnlich wild wie Sisqo sich im Artwork gibt, ähnlich entschlossen kommen seine Lieder daher. Hier fragt sich jemand, wie er ein Mädchen möglichst schnell ins Bett bekommt, sagt, dass er gefährlich ist und man besser aufpassen sollte, wenn man ihn von der Leine lässt, hier geht jemand mit seiner Freundin aus, und als er sie sieht (»Oooh da dress so scandalous«), weiß er sofort, dass er bei ihr richtig ist (»I know another nigga couldn't handle it«).

Nun ist R'n'B seit den Motown-Tagen ein Genre, das durch das Format der Radio-Single dominiert wird. Alben werden vor allem um die zwei oder drei Hits herumgebaut, und so hübsch die im Falle Sisqos auch sind, so sehr langweilt der Rest.

Montell Jordan: »Get It On ... Tonite«.
Sisqo: »Unleash the Dragon«.
Beide Def Soul (Universal)