Middle of the Road

Wo geht's lang im Kapitalismus? Schröder und Blair gehen den Dritten Weg. Ihre Kritiker wollen nur mitgehen, wenn dort Linksverkehr eingeführt wird.

Dritte Wege hat es schon ziemlich viele gegeben. Häufig wurden sie von Linken erfunden. Seit der Russischen Revolution von 1917 ging es dabei meist um eine Alternative zum Bolschewismus der Sowjetunion. Diese Alternative musste irgendwo zwischen der - zumindest in der Theorie existierenden - Diktatur des Proletariats und der im Kapitalismus verkörperten Diktatur der Bourgeoisie angesiedelt sein.

Das bekannteste Modell eines Dritten Weges war das Jugoslawien Titos. Dort verwalteten die Arbeiter die Betriebe - das war kommunistisch. Die Betriebe konkurrierten aber miteinander - das war kapitalistisch. Die kapitalistischen Staaten des Westens waren von diesem Modell begeistert, weil die Sowjets dagegen waren. Sie fütterten Jugoslawien so lange mit Krediten, bis das Land unter der Schuldenlast zusammen- bzw. auseinanderbrach. Heute haben in den Gebieten des ehemaligen Jugoslawien die Arbeiter nichts mehr zu melden.

Auf einen Dritten Weg wollten auch die Reformkommunisten der Tschechoslowakei 1968. Im so genannten Prager Frühling schwärmte man von einem »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, mit etwas Marktwirtschaft und freien Wahlen. Auch von diesem Dritten Weg waren die Staaten des kapitalistischen Westens sehr angetan, aber dann fuhren sowjetische Panzer nach Prag und beendeten das Experiment.

Gorbatschow wollte es in der Sowjetunion angesichts der Krise auch mit einem Dritten Weg versuchen. Die Theorie vom Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie ersetzten seine Gesellschaftwissenschaftler durch die Leitidee einer universellen Vernunft, in deren Zeichen die Menschheit gemeinsam gegen »globale Probleme« wie Hunger, Umweltzerstörung und Aufrüstung kämpfen müsse. Auch das hat nicht funktioniert. Im Grunde ist der Dritte Weg immer ein Versprechen gewesen: Links geht's in die Wüste, rechts in den Sumpf, geradeaus liegt das kalte Büffet.

Die aktuelle Version des Dritten Weges wird derzeit von der europäischen Sozialdemokratie ausprobiert. Die meisten Parteimitglieder, etwa die, die sich in ihrem Stadtteil für mehr Fußgängerampeln engagieren, haben davon noch gar nichts mitbekommen, aber in den Feuilletons und auf politischen Fachtagungen findet das Thema großes Interesse. Gibt es Streit, ist die Konstellation seit Jahrzehnten dieselbe. Es geht immer um eine Krise. Die Erfinder des Dritten Weges behaupten, sie hätten neue und zeitgemäße Lösungen, ihre Gegner klagen, die neuen Lösungen seien Verrat an den Idealen und Traditionen der Bewegung.

Vor ein paar Wochen ist ein Buch erschienen, das sich kritisch mit dem Dritten Weg der deutschen und britischen Sozialdemokraten auseinander setzt. Der Titel: »Die Strategie der 'Neuen Mitte'. Verabschiedet sich die moderne Sozialdemokratie als Reformpartei?« Es handelt sich um eine Aufsatzsammlung, Verfasser der Beiträge sind unverkennbar Leute, die an der Sozialdemokratie hängen.

Gut ist an dem Buch, dass kompakt herausgearbeitet wird, was man sich unter dem Dritten Weg vorzustellen hat. Es geht um die sozialwissenschaftlichen Erfindungen etwa Anthony Giddens', der 1998 mit dem Werk »The Third Way« ziemlich wichtig wurde. Es geht gleichzeitig um intellektuell taube Nüsse wie Bodo Hombach, der in seinem Buch »Aufbruch« vor zwei Jahren beschrieb, dass die Sozialdemokraten die Politik Kohls weiterbetreiben, allerdings endlich einen subventionierten Niedriglohnsektor einführen sollten. Die Theorien des Dritten Weges werden mit der sozialdemokratischen Regierungspraxis in verschiedenen europäischen Ländern vermittelt, und dieser Abgleich ergibt, dass es den Dritten Weg eigentlich gar nicht gibt. Jede sozialdemokratische Partei versteht darunter das, was sie gerade tut.

Dennoch lassen sich verschiedenen wissenschaftlichen und programmatischen Erzeugnissen, etwa dem Schröder-Blair-Papier aus dem letzten Sommer, einige Essentials ablauschen: Demnach verläuft der Dritte Weg zwischen dem bürokratischen Wohlfahrtsstaat der siebziger Jahre und dem neoliberalen Staat der sozialen Zerrüttung, den Margaret Thatcher und Ronald Reagan in den achtziger Jahren etablierten. Dieser machte den Dritten Weg überhaupt erst erforderlich: So unablässig auch Thatcher, Reagan und andere Konservative traditionelle Werte wie Familie und Heimat beschworen, so zwangsläufig zersetzte die Flexibilisierung aller Verhältnisse deren Bindungskraft.

Der Dritte Weg will die erzwungene Vereinzelung durch einen neuen Korporatismus auffangen. Die Volksgemeinschaft wird - zumindest im Entwurf - vom Völkischen befreit und ersteht als konsensgrundierte Standortgemeinschaft neu. Der Staat verteilt weniger Geld, schafft aber für die Verlierer neue Aufstiegschancen (»aktivierender Staat«, »Politik der zweiten Chance«). In diesem Zusammenhang kommt das Ethos der Pflicht zu neuen Ehren: Sozialhilfe bekam man bisher, weil man arm war und es vielleicht auch bleiben wollte; zum Fortbildungslehrgang wird man künftig gezwungen und hat auch noch die moralische Pflicht, die neuen Qualifikationen fürs eigene Fortkommen zu nutzen. Diese ziemlich autoritäre Zumutung fällt hinter den politischen Liberalismus zurück, der den Individuen unveräußerliche Rechte zusprach, die Moral aber zur Privatsache erklärte.

Der von den Konservativen beklagten und durch ihren Marktradikalismus zugleich vorangetriebenen sozialen Entwurzelung wollen die Erfinder des Dritten Weges durch neue Formen der »Inklusion« begegnen. Zum einen dadurch, dass Beschäftigungslose notfalls über wahre Drecksjobs in die Gemeinschaft der Erwerbstätigen zurückgeholt werden, zum anderen durch eine erweiterte zivilgesellschaftliche Teilhabe, etwa auf lokaler Ebene. Das hört sich ziemlich demokratisch an, es wird aber nirgendwo erklärt, wie das gehen soll. Für Anthony Giddens ist es jedenfalls eine vordringliche Aufgabe, Solidaritätsbeziehungen und Gemeinschaften jenseits der traditionellen Inklusionen neu zu beleben und neu zu erfinden.

Während das Buch über die neue Sozialdemokratie die Konturen des Dritten Weges recht anschaulich beschreibt, ist die in den verschiedenen Aufsätzen geäußerte Kritik manchmal erschreckend öde. Der Soziologe Klaus Dörre etwa rechnet der Schröder-Regierung schonungslos ihre Defizite vor: Eine echte »Bildungs- und Qualifizierungsoffensive« stehe aus. »Gleiches gilt für eine vorausschauende Industriepolitik, die mit Prozess- und Produktinnovationen, Netzwerkbildung und kooperativem Wettbewerb die high road industrieller Restrukturierung fördert.« Zu wenig nutze die Konzeption des Dritten Weges auch die »produktivitätsfördernde Wirkung direkter Beschäftigtenemanzipation«, obwohl diese das »Flexibilitätsproblem« des »rheinischen Kapitalismus« mildern könne. Wer schon auf dem Dritten Weg ist, kann eben allenfalls an der Aufbringung der Fahrbahnmarkierungen herumkritteln.

Auch Joachim Bischoff und Richard Detje, beide Redakteure der Zeitschrift Sozialismus, kritisieren in ihrem Beitrag die »Widersprüche« der Neuen Mitte und des Dritten Weges. Gegen den Kasinokapitalismus der Börsenzocker loben sie Oskar Lafontaines Einsatz für »echte Unternehmertätigkeit« und entlarven bei Gerhard Schröder mangelnde Konsequenz bei der »Zurückdrängung des Finanzkapitals« und beim Schulterschluss mit den »eigentlichen Unternehmern«. Die entscheidende Frage sei: »Kann die SPD den unternehmerischen Kapitalismus wieder herstellen und was folgt daraus für Sozialstaat und Zivilgesellschaft?«

Wer über diese Frage lacht, ist bei Bischoff und Detje an der falschen Adresse: »Wer den Kapitalismus scharf kritisiert, muss entweder sagen, wie er ihn bändigen oder überwinden will.« Dies scheint auch die Grundidee des Buches zu sein; denn neben der Bitterkeit über den Verrat der Schröder-Blair-Leute an den sozialdemokratischen Idealen enthalten viele Beiträge ernst gemeinte Tipps für eine Reparatur der Marktwirtschaft. Da klingt es geradezu erfrischend unseriös, dass einige führende Jusos gegen den Dritten Weg und dafür plädieren, »das gesamte Feld der Zivilgesellschaft für einen ökonomischen Kulturkampf zu erschließen«. Das wird ein Spaß. Wie damals, beim Marsch durch die Institutionen.

Klaus Dörre/Leo Panitsch/Bodo Zeuner: Die Strategie der »Neuen Mitte«. Verabschiedet sich die moderne Sozialdemokratie als Reformpartei? VSA, Hamburg 1999, 175 S., DM 19,80