Richter richten Richter

Bayerns Verfassungsrichter sollen künftig nicht mehr von der CSU-Parlamentsmehrheit bestimmt werden.

Die Fachärzte äußerten größte Bedenken. Der schwerkranke, traumatisierte Mann könne unmöglich eine Reise antreten. Gesundheitszustand: bedenklich.

Ein Polizeiarzt wusste es besser: Dem Sudanesen Fathelrahman Abdalla, der nach Auskunft der grünen Landtagsfraktion »so mit Medikamenten vollgepumpt« war, dass er »nicht mehr Herr seiner selbst« gewesen sei, bescheinigte er Flugtauglichkeit. Daraufhin beantragte das Ausländeramt der Stadt Nürnberg erneut einen Haftbefehl, um den 27jährigen in sein Herkunftsland abschieben zu können.

Eigentlich hätte nun die Justiz entscheiden müssen. Doch der zuständige Richter erstattete stattdessen eine Selbstanzeige wegen Befangenheit. Ihm war zu Ohren gekommen, »dass seitens des Bayerischen Innenministeriums eine dem Haftantrag stattgebende Entscheidung erwartet« werde. Innenminister Günther Beckstein (CSU) wolle »denjenigen Richter, der den Betroffenen aus der Haft entlasse, einen Kopf kürzer machen«. Die Grünen zitierten Beckstein vor den Rechtsausschuss, wo er alles von sich wies: »Die Äußerung ist Quatsch und frei erfunden.«

Diese Episode aus dem November vergangenen Jahres ist nicht nur bezeichnend für die Abschiebepraxis, sie wirft auch ein unschönes Licht auf das bayerische Rechtssystem. »Sollte diese Vorgehensweise tatsächlich gang und gäbe sein, ist die Unabhängigkeit der bayerischen Justiz nur noch eine Farce«, urteilte die grüne Landtagsabgeordnete Elisabeth Köhler. Für ihre Fraktionskollegin Christine Stahl verdeutlichen die Anschuldigungen die Verflechtung der Justiz mit der CSU-Regierung: »Bedenkt man, welches Risiko der Amtsrichter mit dieser Begründung für seine künftige Laufbahn eingeht, erscheint uns die Glaubwürdigkeit dieser Vorwürfe äußerst hoch«, so Stahl.

Tatsächlich werden Richter niederer Instanzen im Freistaat vom zuständigen Minister - in diesem Fall Beckstein - ernannt und befördert. Über Spitzenämter entscheidet das Kabinett unter Ministerpräsident Edmund Stoiber. Ein Aktionsbündnis für »Unabhängige Richterinnen und Richter in Bayern« will das jetzt ändern und hat bereits über 25 000 Unterschriften gesammelt. Was Beckstein nicht passt: Gegen das Volksbegehren reichte er beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof eine Klage ein.

Die für diese Woche angekündigte Entscheidung wird auch deswegen mit Spannung erwartet, weil der Verfassungsgerichtshof selbst in der Kritik steht. Im seit Jahrzehnten von der CSU dominierten Landtag genügt eine einfache Mehrheit zur Bestellung der nebenberuflich tätigen Verfassungsrichter, die im Hauptberuf an anderen Gerichten Recht sprechen. In bestimmten Fällen zieht der Gerichtshof dann ehrenamtliche Richter hinzu, die wiederum nach den Fraktionsstärken im Münchener Maximilianeum bestellt werden. »84 Prozent der Verfassungsrichter«, rechnen die Befürworter des Bürgerentscheids vor, »werden durch die Regierungsmehrheit gewählt.«

Für die Bürgerrechtler, denen sich unter anderem die Grünen, die FDP, die Jusos, richterliche Standesvertretungen und Gewerkschaften, aber auch rechte Organisationen wie die Bayernpartei und die ÖDP angeschlossen haben, ist klar, dass diese Entscheidungsstrukturen eine »regierungsfromme Rechtsprechung« fördern. Die Justiz hänge am Parteientropf. Dass »die Judikative indirekt von Herrn Stoiber bestimmt« werde, dürfe nicht mehr hingenommen werden, sagt Oliver Hinz, Pressesprecher von Mehr Demokratie.

Der Verein listet eine Reihe von Urteilen aus der Vergangenheit auf, die ganz im Interesse der CSU ausfielen: 1986 setzte der Landtag die Größe einiger parlamentarischer Ausschüsse so fest, dass die neu im Parlament vertretenen Grünen dort nicht vertreten waren - der Verfassungsgerichtshof gab seinen Segen.

Ein Jahr später begann ein Volksbegehren gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf - die Richter erklärten es für unzulässig. Auch dass es der bayerischen Polizei im Jahr 1989 ermöglicht wurde, Personen für zwei Wochen in »Unterbindungsgewahrsam« zu nehmen, traf vor der höchsten Instanz nicht auf Widerspruch: »Die Höchstdauer von zwei Wochen für eine Freiheitsentziehung zur Verhinderung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten verstößt nicht gegen das Grundrecht der Freiheit der Person und gegen das Übermaßverbot.« 1995 schließlich bewertete der Gerichtshof Entscheidungen von Kommunalpolitikern höher als die soeben von mehreren Initiativen errungenen Bürgerentscheide.

Genau 26 112 Unterschriften hat das Aktionsbündnis gesammelt und am Nikolaustag Innenminister Günther Beckstein auf den Tisch gelegt. Dessen Begeisterung über das Präsent hielt sich in Grenzen, enthält die Gesetzesinitiative doch Punkte, die das bayerische Machtgefüge aus Sicht der Opposition erheblich verändern könnten. »Staatsregierung und Verfassungsgerichtshof sollen nicht länger Doppelpass spielen«, formuliert die Landtagsabgeordnete der Grünen, Susanna Tausendfreund. Fünf hauptamtliche Verfassungsrichter sollen in Zukunft nur noch mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit - wie in vielen anderen Bundesländern auch - vom Landtag gewählt werden können. Regierung und Opposition müssten sich also auf passende Kandidaten einigen. Außerdem soll ein parlamentarischer Richterwahlausschuss und nicht allein der Minister Amts-, Verwaltungs- und Arbeitsrichter bestellen.

Noch vor Weihnachten ließ Beckstein das Anliegen der Initiatoren prüfen, für schlecht befinden und klagen: »Nach Auffassung des Innenministeriums verstößt das Volksbegehren gegen das verfassungsrechtliche Koppelungsverbot, weil es zwei selbstständige Anliegen in unzulässiger Weise miteinander verknüpft.« Mehr-Demokratie-Sprecher Hinz bestreitet, dass es »überhaupt so etwas wie ein Koppelungsverbot« gibt: »Das ist reine Schikane.«

Jetzt entscheidet das bayerische Verfassungsgericht über seine eigene Zukunft - und über seine eigene Befangenheit. In der letzten Woche stellte Mehr Demokratie den Antrag, das Gericht solle sich in diesem Punkt selbst für befangen erklären und die Entscheidung dem Bundesverfassungsgericht überlassen. Die Richter lehnten ab. Tausendfreund sagte, mit dieser Entscheidung werde »eindrucksvoll die Notwendigkeit des Volksbegehrens bestätigt«. Sie und andere Grüne hatten ebenfalls den Gang nach Karlsruhe gefordert, woraufhin ihnen der Innenminister »ein erschreckendes Maß an Rechtsunkenntnis, wenn nicht gar Rechtsblindheit« attestierte. Er, Beckstein, habe strikt nach Gesetzesvorschrift gehandelt, in solchen Fällen müsse der Verfassungsgerichtshof entscheiden. Die Forderung, Karlsruhe dies tun zu lassen, sei dagegen eine »freie Rechtsschöpfung gegen den Wortlaut des Gesetzes«.

Das Gericht will seine Entscheidung nun am 24. Februar bekannt geben. Lässt es den Bürgerentscheid gegen sich selbst zu, könnten Bayerns Bürger im Mai über die Richter richten.