Feuilleton vs. Pop-Literatur

Die Leiden des Klassensprechers

Welcher Art sind die Ressentiments des Feuilletons gegen die Pop-Literatur? Die Abwehrkämpfe der Jungen gegen die Noch-Jüngeren.

Neuerdings hat Gustav Seibt den Techno und die Kulturkritik entdeckt. So teilte es die Zeit am 2. März mit. Für das Feuilleton der Wochenzeitung hatte sich der Philologe und Historiker, Jahrgang 1959, in die deutsche Pop-Literatur eingelesen und einen »angeregt-distanzierten Blick auf eine neue Jugendgeneration« geworfen, deren »Lebensinhalt die Ästhetisierung des Konsums ist«.

Sein Befund nach der Lektüre von »Tristesse Royale« und »Generation Golf»: »Wo wenig Klasse ist, ist viel Generation.« Seine Erklärung: Die Anstrengung der Individualisierung macht authentisch einsam. Denn - und hier werden wir Lügen gestraft, die wir »Klasse« zunächst im Sinne von Qualitätsstufe verstanden haben - der Mangel an Klassenbewusstsein ist verantwortlich. Oder genauer: »Wo Klasse ist, herrscht ein gewisses Maß von Tradition und überindividuellem Stil; wo soziale Mobilität überwiegt, kommt leicht der Mechanismus von Generationen mit ihren Moden und Sonderkulturen in Gang.«

Ein gewisses Maß von Tradition und überindividuellem Stil bedeutet, dass jeder weiß, wo sein Platz in der Gesellschaft ist und auch keinerlei Ansprüche stellt, dass sich dieses Gefüge verändere. Unästhetisch ist deshalb der »typisch deutsche Mittelstand« und seine konsumistische Haltung, »diese für intelligente Menschen eigentlich unwürdige Dauerbefassung mit Dingen, die doch vor allem praktischen Zwecken dienen sollten«, dieses »zutieftst Kleinbürgerliche«.

Zutiefst widerlich, dass Emporkömmlinge versuchen, sich auf Positionen breit zu machen, die doch schon längst besetzt sind. Es zeugt von schlechtem Geschmack, dass sie es dennoch versuchen, und man sehnt sich nach den geordneten Verhältnissen vergangener Tage.

Machen wir uns doch einmal diesen soziologisierenden und verallgemeinernden Gestus zu Eigen und produzieren genauso starke Thesen: Die Generation der heute 40jährigen ist narzisstisch gekränkt, weil sie zwischen zwei kantischen Geschichtszeichen - der 68er-Bewegung und dem 89er Mauerfall - geboren wurde und deshalb nie die Gelegenheit hatte, von außerhalb ideologisch beeinflusst zu werden. Deshalb muss es sie doppelt ärgern, dass die 89er dieses geschichtliche Angebot nicht wahrgenommen haben. Einerseits überhaupt die Gnade eines solchen Angebotes zu haben, andererseits es dann mit Missachtung strafen.

Deshalb beschwört diese Generation bei jeder Gelegenheit die gesellschaftlichen Verdienste der 68er, was sie kann, weil sie diese inzwischen verdrängt und unschädlich gemacht hat, um andererseits die 89er ihres historischen Versagens zu bezichtigen und die Einflusslosigkeit dieser Generation zu zementieren. Dazwischen bleiben nämlich nur die 40jährigen übrig, die zur gesellschaftlichen Gestaltung fähig sind. Weil sie um ihre durch jahrelanges Studieren erworbenen Pfründe fürchten, bieten sie all ihre geisteswissenschaftliche Munition auf.

Oder, um das Pauschalisieren noch weiter auszureizen und sich in die tiefsten Niederungen küchenpsychoanalytischer Argumentation zu begeben: Die Generation der heute 40jährigen hat nach der endlich eingesetzten Karriere die eigene Vergangenheit verdrängt, um sich der Illusion hingeben zu können, sie würde aus Naturrecht die jetzigen Positionen besetzen. Deshalb das Pochen auf Klassengrenzen, deshalb der Hass auf den Mittelstand, der sich so gar nicht an feine Unterschiede halten will und sich eklektisch alles aneignet. Und deshalb auch die Panik angesichts der nachgewachsenen Generation, die als ein Spiegelbild des eigenen Konformismus und Emporgekommenseins erscheinen muss und dadurch den Schein der natürlichen Ordnung zu entlarven droht.

Vielleicht wird diese Haltung auch durch den Titel des Zeit-Beitrages deutlich: Aus dem Anspruch der Pop-Literaten in »Tristesse Royale«, »alles auszusortieren, was falsch war«, wird das apodiktische »Aussortieren, was falsch ist«. Dadurch wird nun eigentlich auf den eigenen Antrieb verwiesen. Wobei, um jetzt alle Stereotypien der Argumentation auszureizen, nach dem Grundsatz verfahren wird: Dass das Leben in den Chefetagen ein falsches ist, wissen die durch Emporkömmlinge Bedrohten selbst, das ist auch nicht das Problem, nur dass jetzt eine Generation kommt und offen behauptet, dass dieses Leben ein richtiges sei, das darf nicht sein. Denn dann würde die schöne Doppelmoral von hehrem Anspruch, zeitloser Qualität und naturgegebenem Status bei gleichzeitiger Anpassung an den Zeitgeist oder die Geldgeber so brutal in die Öffentlichkeit gezerrt. Wo genau die »feinen Unterschiede« sein sollen, ist nicht ganz klar.

Der Habitus von »Aussortieren, was falsch ist« und »Tristesse Royale« ähnelt sich doch sehr. Wenn Seibt den Pop-Literaten vorwirft, sie seien »stockkonservativ« und wollten durch »verantwortungslosen Genuss« alles so lassen, wie es ist, klingt das eher nach einer Litanei wie der folgenden: Es ist widerlich, dass ihr euch die opportunistische Lebensweise meiner Generation einfach aneignet. Eigentlich wollen wir in bequemen Sesseln und mit dem Weinglas in der Hand eurem stellvertretenden Martyrium beiwohnen. Begehrt auf, stürmt die Paläste, damit unser Gewissen beruhigt ist und wir auf unseren Posten bequem bis zur wohlverdienten Rente weitersitzen dürfen. In dieser Double-Bind-Situation bleibt den 30jährigen keine andere Möglichkeit, als so zu reagieren, wie sie es jetzt tun. Nimmt man die Gesellschaft ernst, dann wird man dafür verurteilt und als falsch aussortiert, kritisiert man die Verhältnisse, dann erfüllt man die Erwartungen und kann für Zwecke der Gesellschaft missbraucht werden.

In einer Talkshow hat einer der »Tristesse Royal»-Autoren, Alexander von Schönburg, gesagt, dass man das Buch wie ein Theaterstück betrachten sollte. Es treten dort Figuren auf, deren Verhalten und Äußerungen man interpretieren muss. Wenn das, was man wirklich sagen will, nicht wahrgenommen oder für fremde Zwecke missbraucht wird, dann, so die Überlegung, wird das So-tun-als-ob-man-was-sagen-will zu einer Demonstration dieser Unterdrückung. Und wenn nicht, dann tut es wenigstens nicht so weh.