Patriotische Gewerkschaften

National vs. Global Players

Die deutschen Gewerkschaften laufen Gefahr, bei der Mobilisierung gegen die Globalisierung in nationalistische Ressentiments zu verfallen.

Es ist erstaunlich, wie vorausschauend Karl Marx die innere Funktionsweise des Kapitalismus beschrieben hat. Ein genaues Lesen seiner »Grundrisse« sowie des »Kapital« - beide beinahe 150 Jahre alt - offenbart, wie wenig sich das Wesen des Kapitalismus geändert hat.

Scharfsinnig sah Marx voraus, wie die Produktivkräfte dazu tendieren, sich ständig zu erneuern. Er hat auch die konstante Tendenz zu einer zunehmenden Konzentration der Industrie und des Eigentums an der Spitze analysiert, erst auf einer nationalen Ebene und dann auf einer internationalen - also globalen - Ebene. Marx hat gesehen, dass es in dem schrankenlosen Prozess der Kapitalakkumulation Gewinner geben würde, jedoch weitaus mehr Verlierer. Ein Beispiel: Die US-amerikanische Automobilindustrie bestand in den zwanziger Jahren aus 23 Firmen, heute gibt es nur noch drei, von denen eine nicht einmal von den USA, sondern von Stuttgart aus geleitet wird.

Die Tendenz zur Oligopolisierung - nicht unbedingt einer Monopolisierung -, die überall dort auftreten würde, wo der Markt seinen eigenen Mechanismen überlassen und nicht durch politische Interventionen des Staates gestoppt würde, hat den Kapitalismus seit seinen Anfängen charakterisiert und wirkt auch in der Gegenwart fort.

Marx hat auch sehr genau die beharrenden Tendenzen und Eigenheiten der von ihm so genannten gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse gesehen, die im beträchtlichen Kontrast zu den Produktivkräften stehen. Die Produktionsverhältnisse würden sich immer langsamer bewegen und an Traditionen gebunden bleiben, in ihrer Seinsweise also viel konservativer sein. 70 Jahre vor der Hochzeit der Kulturanthropologie hat Marx die beharrende und konservative Natur der Kultur aufgezeigt. Das ist noch immer aktuell.

Aber in dem Maße, in dem sich seine Analysen der Kapitalseite des Kapitalismus in den letzten 200 Jahren als korrekt erwiesen haben, haben sich seine Analysen der Seite der Arbeit als fehlerhaft herausgestellt. Nicht im ökonomischen Sinn, auch nicht vom Standpunkt eines politischen Ökonomen, aber aus der Sicht einer revolutionären und politischen Person, die all ihre Hoffnungen in die Arbeiterklasse als Subjekt der Geschichte gesetzt hat. Nicht zufällig blieben Marx' Texte zur Arbeiterklasse - bei denen der Wunsch den Gedanken bestimmte - viel skizzenhafter und fragmentarischer als seine dichten Beschreibungen des Kapitals und seiner Dynamik, die das Ergebnis profunder empirischer Untersuchungen waren. Weil die Arbeiterklassen aller Länder ausgebeutet werden, hoffte Marx darauf, dass diese Arbeiterklassen subjektiv auch ein internationales Bewusstsein entwickeln und eine Politik der internationalen Solidarität verfolgen würden. Spätestens seit August 1914 sollte den meisten klar geworden sein, dass dies - leider - nicht stimmte; dass die Antworten der Arbeiterklassen - wenn überhaupt - höchst national, sogar nationalistisch ausfielen. Daran hat sich im Laufe dieses Jahrhunderts wenig geändert. Schon 1914 war das Kapital sehr international; im Laufe des Jahrhunderts hat sich diese Tendenz derart verstärkt, dass wir von einer Globalisierung des Kapitals sprechen können, die einzigartig ist.

Mit der Arbeit ist das nicht so. Und in der Tat sehen wir am Anfang des 21. Jahrhunderts in allen fortgeschrittenen industriellen Gesellschaften einige Hauptakteure, die ebenso wie die Arbeit dem Nationalstaat verpflichtet und auf diesen beschränkt sind. Ein Problem gewesen, das in den nächsten zwei Jahrzehnten noch größer werden wird.

Natürlich ist es für das Kapital einfacher, sich zu verändern und international zu agieren. Schließlich ist das Kapital, wie Marx uns so überzeugend dargelegt hat, verdinglichte Arbeit, es ist daher ein lebloses Ding, sein Transfer ist einfach und schmerzlos möglich. Darüber hinaus verfügen diejenigen, die über diesen Prozess die Kontrolle haben - die Kapitalisten -, auch über die nötigen Mittel, um international zu agieren. Zugleich sind sie diejenigen, die über genügend Muße verfügen, um diesen erweiterten Horizont und die neuen Möglichkeiten zu genießen.

Die Arbeit hat keinen dieser Vorteile: Da sie von Natur aus menschlich ist, taugt sie nur schlecht zur Verdinglichung und Abstraktion. Und da ihre Akteure weder reich noch privilegiert sind, haben sie nicht die Mittel, selbstbewusst auf dem internationalen Parkett aufzutreten. Auf vielfältige Weise kommt hier der beharrende Charakter von Traditionen und Kulturen, den Marx so gut herausgearbeitet hat, ins Spiel - auf eine für die Arbeit unvorteilhafte Weise, wie ich meine. Kurz gesagt: Trotz der Tatsache, dass die Arbeit in dem globalisierten Stadium des Kapitalismus, in dem wir uns befinden, eindeutig im Nachteil ist, müsste sie nicht so sehr im Hintertreffen sein, wie es im Moment den Anschein hat. Arbeiterbewegungen sollten sehr viel internationaler ausgerichtet sein, als sie es zum jetzigen Zeitpunkt sind. Aber ihre Kultur hindert sie daran.

Mit Ausnahme der Gewerkschaften in einigen kleineren Ländern mit einer besonders offenen Wirtschaft, verfolgen alle organisierten Arbeiterbewegungen immer noch - oder vielleicht wieder - nationale Strategien, die naturgemäß defensiv sind. Als solche nehmen sie häufig destruktive und geradezu nationalistische Züge an, die sich bis zur Fremdenfeindlichkeit und zum Rassismus steigern können. Dieses Versäumnis betraf im 20. Jahrhundert fast alle Arbeiterbewegungen, die sich nur um Arbeiter gekümmert haben, welche bereits über bestimmte Privilegien verfügten und dabei alle anderen, wie Frauen, ethnische Minderheiten oder ungelernte Arbeiter, diskriminierten. Die organisierte Arbeiterschaft hat sich in allen Ländern zuallererst immer als eine große Interessensvertretung verstanden, als eine Lobby-Organisation für ihre Mitglieder, und erst in zweiter Linie als eine solidarische Bewegung zu Gunsten der Schwachen in der Gesellschaft.

Ich bin zutiefst beunruhigt über die nationalistischen Stimmen, die in vielen Gewerkschaften in den Industrienationen zu vernehmen sind. In den USA ist die Arbeiterbewegung geprägt von einer nationalistischen Ausrichtung, die offen die Armen in der Welt diskriminiert. So mobilisiert jetzt zum Beispiel die AFL-CIO gegen eine Entwicklung, die den afrikanischen Staaten den Zugang zum US-amerikanischen Textilmarkt erleichtern soll. Derzeit hat Afrika in dieser Branche einen Anteil von 0,18 Prozent am US-Markt. Eine lächerliche Größe, doch wenn man die US-Gewerkschaften hört, gewinnt man den Eindruck, die afrikanische Textilindustrie würde die amerikanische Textilindustrie komplett verdrängen.

Das Ergebnis dieser einflussreichen Lobbyarbeit, bei der sich die Gewerkschaften einer erschreckend nationalistischen Sprache bedienen, wird sein, dass Frauen - denn die meisten Textilarbeiter sind Frauen - in den von Aids gezeichneten Ländern südlich der Sahara einer weiteren Möglichkeit beraubt werden, ihre Lebensverhältnise ein kleines bisschen zu verbessern.

Natürlich kann und sollte man, wie Gewerkschafter dies tun, sich energisch gegen Kinder- und Sklavenarbeit wenden. Doch Protektionismus um jeden Preis ist etwas anderes. Ich war immer gegen die »Buy American»-Kampagnen der US-amerikanischen Arbeiterbewegung. Sie sind nationalistisch und hässlich. Ich habe mich auch einst energisch gegen die britischen Gewerkschaften gerichtet, die sich einer offen antideutschen Sprache bedienten und antideutsche Ressentiments weckten, um gegen verschiedene deutsche Übernahmen britischer Firmen zu mobilisieren.

Vor diesem Hintergrund war ich besonders schockiert von der offen anti-britischen und anti-»angelsächsischen« Mobilisierung bei der Übernahme von Mannesmann durch Vodafone. Denn aus der Nachkriegsgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung sieht man, dass sie im Vergleich zu ähnlichen Bewegungen in ähnlichen Ländern zu den am wenigsten nationalistischen gehört. Ich fand das sehr sympathisch und progressiv. Und dann plötzlich die Mobilisierung gegen den »angelsächsischen« Kasino- und Voodoo-Kapitalismus. Es ist nichts Falsches daran, eine Übernahme zu bekämpfen. Aber in diesem bestimmten Zusammenhang so offensichtlich belastete Begriffe zu benutzen wie »angelsächsisch«, finde ich sehr beunruhigend. Die deutschen Gewerkschaften wissen - oder sollten wissen -, dass »angelsächsischer« Kapitalismus in diesem Kontext einem Sprachgebrauch folgt, der starke Ähnlichkeiten zu dem der Nazis aufweist und sofort von allen im Wahlalter mit den noch beunruhigenderen Parolen vom »jüdischen« Kapitalismus assoziiert wird.

Nochmal, Kontext ist der Unterschied ums Ganze. Dieser Begriff wird benutzt in einer Zeit, in der der Rechtsradikalismus in Deutschland im Aufschwung befindlich ist - es gibt mehr geschändete Friedhöfe in Deutschland als gegen Ende der Weimarer Republik -; in der große Bereiche in Städten der fünf neuen Bundesländer als »national befreite Zonen« für Ausländer unzugänglich sind; wenn Rechtsradikale zum Brandenburger Tor mobilisieren; in der eine linguistische Analyse der Berichterstattung der Jungen Freiheit über den Kosovo-Krieg Ähnlichkeiten mit der des Neuen Deutschland aufweist, eine beängstigende Überschneidung zwischen Rechts und Links mit dem deutschen Nationalismus als gemeinsamem Bezugspunkt.

So finde ich es sehr beunruhigend, wenn die Arbeiterbewegung in Deutschland sich eines historisch belasteten Begriffs bedient, belastet von einer Geschichte, der sich die Arbeiterbewegung bisher - zumindest bis heute - offen widersetzt hat. Doch ich möchte nicht missverstanden werden und sagen, dass die deutsche Arbeiterbewegung im Begriff ist, rechts oder gar neonazistisch zu werden. Auch soll hier nicht propagiert werden, dass die Gefahr einer Hinwendung zum Nationalbolschewismus besteht.

Das gegenwärtige Europa befindet sich in einer prekären Situation: Haider ist an der Macht in Österreich, der Vlaams Blok in Belgien hält sich gut, Christoph Blocher ist eine Hauptfigur in der Schweizer Politik, Jean-Marie Le Pens Ideen und Politik entfalten sich weiterhin in der französischen Rechten. Alle diese rechtsextremen Strömungen erhalten eine beträchtliche Unterstützung von Arbeitern. In dieser Situation haben besonders die deutschen Gewerkschaften die Verantwortung, um keinen Preis Gefahr zu laufen, das nationalistische Pulverfass zu entzünden. Die Nachteile der Globalisierung müssen energisch bekämpft werden, jedoch niemals mit der nationalistischen Keule.

Andrei S. Markovits ist Professor für Politik und Soziologie an der University of Michigan, Ann Arbor. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Matthias Echterhagen.