Hörbücher

Der große Lauschangriff

Niemand weiß genau, was Hörbücher eigentlich sind, aber alle wollen sie.

Man kann ihnen nicht entkommen. Wo man geht und steht, wohin man kommt, die Hör-bücher sind schon da. In Kinderzimmern läuft Benjamin Blümchen, in Jugendzimmern Benjamin Lebert. Aus den Autos von Kulturredakteuren tönen Sigmund Freuds Vorlesungen zur Psychoanalyse. Der Hessische Rundfunk hat eine Hörbuch-Bestenliste eingeführt, und wer das akustische Gemeinschaftserlebnis sucht, kann in ein Berliner Planetarium gehen und dort Aufführungen von Hörbüchern lauschen.

Auf der Buchmesse in Leipzig sind die Hörbücher mit einem gemeinsamen Stand vertreten. Rund ist er, und eigentlich eher ein Pavillon, mit langen Wänden voller CDs, Cassetten, Kopfhörern und natürlich Hörern. Alle, die irgendwas mit Texten auf Tonträgern zu tun haben, sind hier versammelt, Literaturverlage, die ihre Texte zweitverwerten, Audio-Verlage, die die Hörspiele öffentlich-rechtlicher Rundfunksender auf Cassetten herausbringen, und kleine Firmen von Verrückten, die in Eigenregie Audio-Kunstwerke produzieren. Hörbuch scheint alles zu sein: Autorenlesung, Lesung von Schauspielern, Tondokument, Hörspiel und Collage. Die Buch-Industrie hat eine Erfolgsgeschichte, und diese Geschichte ist vor allem die eines Unternehmens - des HörVerlags.

Nachdem sich die Aussteller im Sommer vergangenen Jahres auf der Musikmesse PopKomm in Köln unter dem Label Wortkomm präsentierten und wider Erwarten sich kaum jemand in ihre Halle verirrte, sind sie jetzt froh, mit der Leipziger Literaturmesse überhaupt einen Ort gefunden zu haben, wo ihr Erfolg auch als solcher wahrgenommen wird.

Im Grunde bietet das Hörbuch nichts Neues. Vorgelesen wird, seit es Bücher gibt, Hörspiele werden produziert, seit das Radio erfunden wurde, und Cassetten mit Lesungen oder Hörspielen gibt es seit Erfindung der Audio-Cassette. Es gab die Produktionen der Deutschen Grammophon Gesellschaft, die Aufnahme der legendären Gustaf-Gründgens-Inszenierung des »Faust« etwa, die Europa-Hörspiel-Cassetten mit den Abenteuern von Perry Rhodan, John Sinclair und den Drei Fragezeichen. Manche Buchläden hatten einen Pappständer auf ihrem Verkaufstresen stehen, in dem zwei Dutzend Cassetten mit vorgelesenen Romanen verstaubten. Mal lief der Verkauf über den Plattenhandel, mal über Spielzeuggeschäfte, mal über den Postversand. Wirklich durchsetzen konnten sich die Aufnahmen aber nicht.

Bis vor sieben Jahren der HörVerlag gegründet wurde. Das funktionierte ähnlich wie die Gründung des Deutschen Taschenbuch Verlags (dtv). Taten sich damals mehrere Verlage zusammen, um gemeinsam die Zweitverwertung ihrer gebundenen Ausgaben mit einem Corporate Design auf den Markt zu bringen, so waren es jetzt acht Verlage - darunter Suhrkamp, Hanser, Kiepenheuer & Witsch und Klett Cotta -, die dem HörVerlag die gemeinsame Audio-Verwertung ihrer Programme übertrugen. Zwar wurden dem HörVerlag bei seinem Start keine großen Chancen eingeräumt, doch eine Hörspielfassung von Jostein Gaarders »Sophies Welt« verkaufte sich mehrere Zehntausend Mal, und auf einmal war ein Markenzeichen geschaffen: das Hörbuch.

Seit es als Erfolgsprodukt eingeführt ist, bringen immer mehr Verlage Audioreihen heraus. Der Berliner Aufbau-Verlag etwa hat zusammen mit dem Mitteldeutschen Rundfunk, dem Südwestrundfunk und dem DeutschlandRadio den Audio-Verlag begründet. Rund 150 Audio-Verlage sind mittlerweile mit rund 4 000 Titeln auf dem Markt. Der Umsatz bewegt sich irgendwo zwischen 30 und 50 Millionen Mark im Jahr. Aber, wie der HörVerlag nicht müde wird zu betonen, mit einem potenziellen Marktvolumen, das mindestens zehn Mal so groß ist und jährlichen Wachstumsraten von mindestens dreißig Prozent.

Alles andere aber ist aber unklar: Wer all die Cassetten kauft und warum. Zwar wissen nur vier Prozent der Deutschen überhaupt, was ein Hörbuch ist, aber vierzig Prozent interessieren sich dafür und würden gerne mehr wissen. Irgendwie sind die Käufer zwischen zwanzig und fünfzig, es sind mehr Frauen als Männer, und irgendwie hören sie es beim Autofahren und Bügeln, irgendwie lesen sie gerne und irgendwie sind sie gebildet. Und diese Unklarheit trifft sich prima mit dem Image, das die Verlage ihren Produkten geben: Hörbücher sind erfolgreich und verkaufen sich, sie sind aber kein Massenprodukt, sie sind anspruchsvoll, aber man kann sie nebenbei hören. Sie sind eigenständige Kunstwerke, nehmen dem Buch aber keine Leser weg.

Genauso ungeklärt ist, was ein Hörbuch überhaupt ist. Text auf Tape? Eigenes Kunstwerk, Zweitverwertung? Der HörVerlag hat sich von dem Begriff Hörbuch ganz verabschiedet und nennt seine Produkte Audio Books. Aber eine eigene ästhetische Form ist nicht in Sicht. Denn von einigen kleineren Labels abgesehen, wird die Hörspiel- und Featureproduktion nach wie vor fast ausschließlich von den öffentlich-rechtlichen Funkhäusern erledigt. Von den Verlagen werden diese Produktionen dann übernommen. Wenn die Verlage etwas selbst machen, schneiden sie meist schlicht die Lesungen ihrer Autoren mit.

Dass sich alle Hörbuch-Hersteller auf der Leipziger Messe an einem Stand versammeln, ist sowohl Zeichen dieser Stärke als auch Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit. Alle wollen am Boom teilhaben, aber gleichzeitig sollen möglichst keine Unterschiede kenntlich gemacht werden. Warum etwa der Mitschnitt einer Lesung genauso teuer ist wie eine aufwendige Hörspiel-Produktion, oder warum eine dreißig Jahre alte öffentlich-rechtliche Archiv-Aufnahme das Gleiche kostet wie eine unabhängig produzierte Lesung mit mehreren Sprechern, kann niemand erklären.

Noch hat die Branche nichts gemeinsam, außer einem gut funktionierenden Produkt, steigenden Verkaufszahlen und einem Vorbild: die USA. Dort gibt es Audio Books schon eine ganze Weile. Vier Milliarden Mark setzen die Verlage dort jährlich mit besprochenen Cassetten um.