»St. Amour« von Tom Liwa

Bezugspunkte lost

Tom Liwa ist ein alt gewordener Junggrübler, der sich umguckt und die Welt nicht mehr versteht.

Irgendwo in der Nähe von Hannover, in einer Schule, gegen Ende der achtziger Jahre: Die örtliche Schülervertretung hat zum Schulcafé mit Musik geladen. Es gibt Cola und Kuchen. Auf der Bühne steht Tom Liwa mit den Flowerpornoes und spielt Gitarre. Er spielt ohne Plektrum. Und sein Fingernagel reißt ein. Er wendet sich an das Publikum und näselt: »Hat jemand eine Nagelschere dabei?«
Die Schülerinnen und Schüler schauen sich verdutzt an. Hier ist Dorf, es ist Konzert, und jetzt redet der Star mit einem. Liwa wiederholt seine Frage. Und insistiert: »Ohne Nagelschere kann ich nicht weiterspielen.« Irgendjemand steht schnell auf und geht nach Hause, Hilfe holen. Die Flowerpornoes und die Kinder aus der Peripherie stehen sich währenddessen gegenüber. Einige beginnen zu reden, zwei schmusen, und Liwa wartet auf der Bühne. Die Jeansjacken-Fraktion ­ Jungs und Mädchen, die wissen, dass ihre Zukunft Betriebsschlosser und Sekretärin, Opelgang und blondierte Spitzen heißt ­ nimmt die Situation nicht länger hin. Zwar gibt es keine Alternative zu dem hier, aber Konzert ist Konzert. Wie sie es von ihren Metal-Konzerten gewohnt sind, beginnen sie zu skandieren: »Weichei! Weichei! Weichei!«
Liwa aber verliert die Fassung nicht, er sitzt auf der Bühne und wartet. Schließlich bekommt er eine Nagelschere und spielt weiter. Die Jeansjacken-Fraktion zieht am Ende des Konzertes weiter in eine Dorfpinte. Die anderen gehen nach Hause. Doch die Abiturientinnen und Abiturienten, die heimlich Romane schreiben und französische Filme gucken, sind schwer beeindruckt.
So war das am Ende der Achtziger ­ als Indierocker. Die Grenzen waren abgesteckt, der Herz schlug links, und man träumte davon, nach Hamburg zu ziehen oder wenigstens in Bochum zu studieren. Man wollte »nur weg hier«. Bands wie die Flowerpornoes machten die Musik dazu: hier leben und sich nach dorthin sehnen. Immer war das Hören dieser Musik zugleich auch das demonstrative Zurschaustellen des tiefen Wissens darum, dass man eigentlich nach London oder besser noch in den amerikanischen Westen gehört. Um 1992 zerbrach diese Wunschwelt: In der Musik trennten sich für die deutschen Abiturienten die Wege in Grunge und Techno. Fragen der Dissidenz und der Wahrheit wurden auf der Oberfläche Style verhandelt. In Deutschland gab es zudem den restaurativen Taumel der Wiedervereinigung, in dem auf Seiten des Ostens binnen weniger Jahre alle möglichen Moden nachgeholt wurden, die jedoch ohne ihre Anbindung an ihre ursprünglichen Zeitumstände gänzlich ohne Bedeutung waren. X-Kappen-Träger jagten Ausländer durch die Straßen, und Hippies träumten bei Bier und Shit auf der Wiese von einer glänzenden Karriere. Und der Westen zog nach ­ nicht einmal nackt konnte man mehr provozieren. Die ungeliebte, aber heile Welt, die Indierock als Voraussetzung für seine Mischung aus Seele und Utopie benötigt, war plötzlich verschwunden.
Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung fand Liwa seine Sprache: Die Flowerpornoes begannen auf Deutsch zu singen, nicht mehr auf Englisch wie noch in den späten Achtzigern. Zunächst gegen Deutschland. Noch immer versuchten sie, das Versprechen der Ferne aufrechtzuerhalten. Mit »Mamas Pfirsiche« lieferten sie ein Album, das die deutschen Zustände zu privatisieren versuchte und sich komplett in der Rolle des unbeteiligten Beobachters gefiel. Die Platte bekam sogar häufige Radioeinsätze. »Ich & Ich«, das letzte Album der Flowerpornoes, versuchte sich im Ausloten der eigenen Perrsönlichkeit durch die Wiederentdeckung von Rock. Es floppte, da die Bezugspunkte verloren gegangen waren.
Zwischen diesen beiden Alben lag die Platte »Red nicht von Straßen, nicht von Zügen«, die auf eine merkwürdige Art intim war ­ obwohl Liwas Texte nur scheinbar authentisch sind, bot das Album ein exemplarisches Bild vom Alltag eines knapp dreißigjährigen Mannes. Anders als bei seinen anderen Platten war Liwa hier nicht überambitioniert und auf dem Weg der deutsche … (man setze einen beliebigen Folkrockstar ein) zu werden. Gerade daher war »Red nicht von Straßen …« vielleicht tatsächlich der gelungene Versuch, die Songs des Folkrock ins Deutsche zu übertragen.
Genauso klingt nun auch Liwas spätes Solodebüt »St. Amour«. Es ist das erste Liwa-Album seit fünf Jahren. Wieder hat er sich auf Gitarre und Gesang konzentriert, Schlagzeug, Bass oder Keyboards bleiben verhalten im Hintergrund. So ist das Schnarren der Gitarrensaiten beim Umgreifen oder die Atmung deutlich hörbar. Liwa möchte echt sein.
Doch es wirkt nicht mehr richtig. Entsprechend der demonstrativen Erdgebundenheit seiner Musik kann Liwa seinen Hang zu esoterischen Texten nicht verbergen: »Ich will nichts mehr sein, als das was ich bin, Fehler für Fehler komm ich mir näher, wirst Du mich finden?« ­ Texte wie diese stammen aus einer Welt, in der das Wort »Streitkultur« noch einen Inhalt hat. Mit einer fast angestrengten Weichheit in der Stimme versucht er, seine Innerlichkeit abzufeiern. Zeile für Zeile merkt man Liwas Sprache seine bürgerliche Herkunft und ebenso seine Vergangenheit als grün wählender Junggrübler an. Liwa ist jetzt ein gealterter Softie mit großen Idealen, die nicht mehr verwirklicht werden können. Er steht inmitten einer ihm fremden Welt, so dass die Verwunderung, die er sich Anfang der Neunziger noch künstlich zulegen musste, jetzt echt ist.
Und seine Bezugspunkte sind noch immer die der Achtziger. In einem Lied über den »Weg des geringsten Widerstandes« singt er: »Es gibt Dinge, über die man besser nicht spricht, und ich würd wetten, Alan Bangs weiß das« und bezieht sich damit auf den heute fast vergessenen »deutschen John Peel« (dessen zweite Karriere als VJ gescheitert ist). Im Presseinfo zu »St. Amour« lässt er den Schlingensief-Provo und 68er Carl Hegemann über sich schreiben, als Gastsprecher lädt er Christian Brückner, also die »deutsche Stimme« von Robert De Niro. Gleichaltrige Frauen nennt er noch immer »seltsames Mädchen«, und auch seine Methode, jemanden ins Bett zu kriegen, ist very strange little girl: Hey, ich erzähl dir was von mir.
Noch immer versucht Tom Liwa, auf gut Deutsch amerikanisch zu werden. Er ist halt ein Kind aus der amerikanischen oder der britischen Zone. Damit wirkt er inzwischen auch in der deutschsprachigen Musik einsam und anachronistisch. Die Zeitlosigkeit des amerikanischen Folkrock kann man nicht eins zu eins ins Deutsche übertragen, hier gibt es keinen entsprechenden ländlichen Lebensstil.
Liwa aber ist noch immer Indierocker und kann sich nicht recht vorstellen, dass es keine Fragen mehr gibt zu seinen Antworten. Nur im Kontext von Indierock und alter Bundesrepublik ist seine Musik verstehbar. Wenn man sich daran gut erinnern kann, ist das sogar zum Teil sehr schön. Aber man muss sich erinnern können. Tom Liwa macht heute Musik von damals, er macht sie für ältere Mädchen und Jungs.

Tom Liwa: »St. Amour«. Moll (EFA)