Thesen zum Kultbuch

Kult oder Kanon

Acht Thesen zum Kultbuch.

Sicher haben Sie die folgenden Losungen schon mal irgendwo gelesen: »Hat das Zeug zu einem veritablen Kultbuch»; »Das Kultbuch der Sechziger« (wahlweise auch der fünfziger, siebziger, achtziger Jahre). Und wohl auch jene unverfrorenen Epitheta: »Kultcharakter!»; »Kultpotenzial!»; »Echt kultig!«. Man beachte die suggestiv warnenden Ausrufungszeichen (»Achtung!«), als habe man es nicht mit Büchern, sondern rezeptpflichtigen Psychopharmaka zu tun.

Davon lassen Sie sich mal nicht irre machen. Bücher, die eins der eben genannten (oder vergleichbare) »Gütesiegel« auf den Deckel bekommen haben, spielen hier keine Rolle, es handelt sich bei ihnen nämlich in aller Regel nicht um Kultbücher, sondern um PRóPopanze. Denn merke (damit sind wir auch schon bei der ersten These): Ein Kultbuch wird nicht vom Verlag »gemacht»; hier entscheidet einmal nicht die Größe des Werbebudgets, sondern der Leser, wes Buch der Ritterschlag ereilt. Das nenne ich mal gelesene Demokratie!

Sanft schmiegt sich da die zweite These an: Kultbücher konstituieren einen Kanon hinter dem Kanon. Während sich dort eine bildungsbürgerliche Elite in feudalóabsolutistischer Tradition erdreistet, die gesamte Gesellschaft zu repräsentieren und für diese einen Kanon des unbedingt Lesenswerten aufzustellen, regiert hier das republikanische Prinzip: Ein mündigómunteres Lesevölkchen erliest sich sein eigenes literarisches Repräsentantenhaus. Da können Deutschlehrer noch so sehr ihr »Lesebuch« knallen lassen ó ihre Stimme hat nicht mehr Gewicht als die jenes desillusionierten Punkers, der nur zwei Dinge liebt auf dieser »komplett beschissenen Welt»: seine handzahme Ratte ó und Douglas Adams' »Per Anhalter durch die Galaxis«.

Dritte These gefällig? Kultbücher brauchen ihre Zeit. Bei ihrem Erscheinen werden sie nicht selten kontrovers diskutiert, verworfen, bespuckt, zu Fidibussen verarbeitet ó oder gar nicht wahrgenommen. Unter Umständen, weil die Lesern, die ihnen späterhin jenes AdelsóPatent ausstellen, erst noch geboren werden müssen.

Wilhelm Reichs marxistischósexualópsychologische Studie »Die sexuelle Revolution« etwa verpuffte nachgerade, als er sie Anfang der dreißiger Jahre zum ersten Mal unters großdeutsche Volk brachte ó das hatte damals Wichtigeres zu tun. Die idealen Leser wurden erst fünf bis zehn Jahre später geboren.

Bisweilen liegt auch viel Zeit zwischen der Niederschrift und der eigentlichen Veröffentlichung eines Werkes ó da kann es dann allerdings schon mal vorkommen, dass dieses Elaborat erst sehr viel später von einer kleinen Lesegemeinde kultisch verehrt wird. Bernward Vespers »Reise« muss an dieser Stelle genannt werden. Jahrelang schimmelt das Manuskript im Keller des späteren Herausgebers Jörg Schröder vor sich hin, dann wird es plötzlich Herbst in Deutschland, und man lässt sich von Vesper noch einmal gern an die heißen Sommertage erinnern.

These Nummer vier. Mitunter hat sich ein Autor sein Kultbuch redlich verdient. Man spricht in diesem Zusammenhang auch gern vom organisch gewachsenen Kult, der erst nach einer mehrjährigen Latenzperiode in seiner vollsten Blütenpracht erstrahlt. Etwa wenn ein Autor über Jahre hinweg eine treue Lesegemeinde um sich schart, aber erst die Veröffentlichung des ó später so genannten ó Hauptwerks recht eigentlich nimbusbildend wirkt.

Nehmen wir das Beispiel Arno Schmidt. Schmidt hatte schon einige Erzählungen und Romane veröffentlicht, sich in AvantgardistenóKreisen also einen gewissen Namen erschrieben, als er erklärtermaßen in Klausur ging, um sich für Jahre in seinem Opus magnum »Zettels Traum«, nun ja, zu verzetteln. Als schließlich ruchbar wurde, dass Schmidt das dickste Buch der deutschen Literatur sich zu schreiben anschickte, waren auf einmal nicht nur seine Aficionados gespannt. Die Spannung stieg noch mit den Jahren des Wartens ó so ein Kloben braucht nun mal seine Zeit. Der Rest ist dann Kultbuchgeschichte.

These fünf: Kultbücher haben häufig seismografische Qualitäten. Mit anderen Worten, sie bilden historische Erschütterungen ab, spiegeln Bereiche des kollektiven Bewusstseins, treffen irgendeinen Geist oder Ungeist der Zeit, fangen ihn ein und bewahren ihn auf ó für jetzt und immerdar. Auf diese Weise schaffen sie ein gehöriges Identifikationspotenzial, dem sich ihr quasiódiviner Status dann auch wohl vor allem verdankt. (Den vielen Twens z.B., die an der Spätachtzigeró und Neunzigerdepression litten, u.a. weil die wirklich guten Jobs längst von der Vorgängergeneration besetzt waren, diesen von den Zeitläuften Benachteiligten, half Douglas Coupland beim Frustabbau, indem er in »Generation X« drei von ihnen zu seinen Helden macht und ihnen, gleichsam stellvertretend, einen Hauch von Würde zurückgibt.)

Deshalb lässt sich ó These sechs ó die Wirkung eines Kultbuches, sein Erfolg auch nicht aus der literarischen Qualität ableiten. Beim Kultbuch spielt der ästhetische Rang mithin absolut keine Rolle, sonst hätten Verena Stefans feministisches Gestammle »Häutungen« in den Siebzigern oder Ernst Jüngers pickelhaubiger Lanzerdreck »In Stahlgewittern« in den goldenen zwanziger Jahren kaum so viele Leser gefunden. Hier geht es vielmehr um Identifikationsangebote oder um das utopische Substrat, das ja nach Ernst Bloch in der Kolportage allemal größer und unverstellter ist als in der EóLiteratur.

Kommen wir zur siebten These: Kultbücher sind Verständigungstexte und helfen mit bei der Formung einer Gruppenidentität. Häufig genug haben sie überdies Initiationsfunktion. Wer zum Beispiel als junger Mensch in den späten Fünfziger resp. frühen Sechzigern Anschluss suchte an die modische Avantgarde, also an die Beat Generation, der musste jedenfalls ihre drei Evangelien kennen: Allen Ginsbergs »Howl«, Jack Kerouacs »On the Road« und »Naked Lunch« von William S. Burroughs. Denn durch sie ließen sich noch am ehesten die adäquate Haltung, Kleidungsordnung, die richtigen Argumente zur Verteidigung eines antióstaatlichen Renegatentums und diese schwer beschreibbare neue Sensibilität erlernen.

Und schließlich die achte und letzte These: Jeder versteht unter dem Schlagó und Stempelwort Kultbuch etwas ganz anderes. Solche amorphen Gebilde lassen sich eben nicht in wissenschaftlich akkurate, i.e. wirklich trennscharfe Typologien zergliedern. Das wissen wir jetzt, aber einen Versuch war es immerhin wert. Kurzum, Sie müssen mir nicht glauben. Wenn Sie's dennoch täten, wäre mir das allerdings auch recht.

Frank Schäfer ist Autor des Buches »Kultbücher. Von 'Schatzinsel' bis 'Pooh's Corner' ó eine Auswahl«, das soeben bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen ist