Die Talkshow des Ex-Präsidenten

Herzogs Happy Hour

Der Ex-Bundespräsident hat das Talkshow-Format neu erfunden. Kein Krach, keine Tränen, keine Hektik - bei Roman Herzog wird noch der längere Gedanke gepflegt.

Seit dem Ende seiner Präsidentschaft waren mehrere Monate verstrichen, und noch immer war von einem Ruck, der durch unser Land ginge, nichts zu spüren. Roman Herzog saß den lieben langen Tag in seiner bescheidenen Etagenwohnung, blätterte im Grundgesetz und bearbeitete die Post. Denn wie eh und je schrieben ihm viele besorgte Menschen, und noch immer begannen ihre Briefe mit der Anrede: Sehr geehrter Herr Bundespräsident Ö Das tat Roman Herzog wohl.

Über seinen Lieblingswitz, er sei gar kein Herzog, er heiße nur so, konnte er nun, da er aller öffentlichen Ämter entkleidet war, kaum noch lachen. Was Roman Herzog damals nicht ahnte: Die CDU sollte demnächst in eine tiefe Krise stürzen und seiner erneut bedürfen. Er würde eine Kommission einberufen, und es würden ihr der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof und der ehemalige Bundesbankpräsident Horst Tomayer angehören, sie würde unter seinem Namen und seiner Leitung mehrfach zusammentreten und am Ende würde sie verkünden, es müsse ein Ruck gehen durch die CDU.

Davon aber, wie gesagt, ahnte Roman Herzog nichts, als das Jahrtausend im trüben bayerischen Winter verwehte. Christiane hatte immerhin noch das Kochen und die Mukoviszidose. Er hatte nur noch seine Korrespondenz. Und es schrieben ihm nicht nur die Leute, »die zu allem und jedem schreiben«, sondern »auch immer wieder Leute, bei denen man sehr wohl merkt, dass sie sehr wohl selbständig denken«. Selbständig denken aber hieß spätestens seit der berühmten Berliner Rede: denken wie Roman Herzog. Und so aufregend es auch für jeden anderen sein mochte, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben verfassungskonform und präsidial einige Meter fürbass zu denken, für einen war es nur noch gähn! »Sehr geehrter Herr Bundespräsident, darf ich einleitend sagen, dass ich Ihnen in Ihrer Kritik an der Neigung der Deutschen zustimme, dauernd am Grundgesetz herumbasteln zu müssen (...)« Ja, schönen Dank, aber wo habe ich eigentlich die TV-Spielfilm hingelegt?

Doch eines Morgens schellte in der bescheidenen Etagenwohnung des Ehepaars Herzog das Telefon. Es war der Intendant des Bayerischen Rundfunks. Eine Dog-Show, verstand Roman Herzog zunächst. Man habe beschlossen, ein solch voluminöser think tank und Erfahrungsschatz dürfe nicht nutzlos auf dem Altenteil verwittern, deshalb trete man nun mit einem Angebot an ihn heran: Herzogs Happy Hour, einmal im Monat. Logisch seien ein Ted, ein Gewinnspiel mit vielen tollen Preisen und nach jeder Sendung ein Chat vorgesehen. Zur ersten Folge werde man Carl Schmitt, Helmut Schmidt, Harald Schmidt und Martin Schmidt einladen, es fehle nur noch eine Torte mit viel Holz.

Es kam aber, wie es kommen musste und wie es immer kommt, nämlich ganz anders: »Guten Abend, meine Damen und Herren, wir beginnen heute im Bayerischen Fernsehen mit einer neuen Reihe, die ausgerechnet meinen Namen trägt. Wir machen hier keine der üblichen Talkshows. Das sollte jeder wissen, bevor er diese Sendung überhaupt einschaltet. Ich habe so lange unter der Praxis gelitten, dass man im Fernsehen die wichtigsten und schwierigsten Probleme innerhalb von 60, 80 oder 90 Sekunden erklären soll, dass ich darüber oft Klage geführt habe. Deswegen bin ich sehr froh darüber, dass mir das Bayerische Fernsehen eine in lockeren Abständen stattfindende Sendung angeboten hat, in der zwar nicht Horden von Diskussionsteilnehmern erscheinen werden und in der auch nichts verlost noch sonstige Geschenke vergeben werden, aber in der es dafür möglich sein wird, unter Menschen, die von einem Gegenstand mehr verstehen als andere, darüber einmal so zu sprechen, dass dabei keine Zeitnot entsteht. Es wird möglich sein, einen Gedanken auch dann ausführen zu können, wenn er ein wenig länger ist.«

Zwar war es ein wenig hinterlistig, den Zuschauern, was sie hätten wissen müssen, bevor sie einschalteten, erst zu verraten, nachdem sie eingeschaltet hatten, und womöglich teilte nicht jeder die Empfindung, Roman Herzog habe sich bisher im Fernsehen nicht gründlich genug erklären dürfen, doch ein zweifellos längerer Gedanke war damit auf Anhieb erfolgreich gedacht und ausgeführt. Der Sender nennt ihn sogar eine »Philosophie« und stellt ihn jedem, der Roman Herzog noch einmal beim Langstreckendenken zuschauen möchte, als RealVideo zum Download bereit.

Der erste Gast litt unter derselben Praxis, die Herzog beklagte. Es war also nicht etwa jemand, der in den Jahren, als er noch etwas zu sagen hatte, stundenlang von Ernst-Dieter Lueg und Friedrich Nowottny befragt worden wäre, der nach Belieben über die Spalten der Zeit verfügte und erst kürzlich dank Arte seine eigene Gesprächsreihe hätte präsentieren dürfen. Sondern es war im Gegenteil Helmut Schmidt: »Das Fernsehen ist ein Medium, in dem der einzelne Politiker - wenn er Glück hat - einmal im Jahr 60 Sekunden lang vorkommt.« Es gab wohl keinen Zuschauer, der sich in diesem Moment nicht plötzlich sehr, sehr alt gefühlt hätte. Nur die »Führer - und ich verwende hier dieses Wort ganz unbefangen« - dürften häufiger zum Volk sprechen, doch auch sie würden »nach 45 Sekunden abgeschnitten. Die Politiker wissen daher von vornherein, dass sie nur 45 Sekunden zur Verfügung haben. Was kann man aber in 45 Sekunden schon sagen? Einen Gemeinplatz, eine oberflächliche Überschrift!«

Schmidt und Herzog sprachen über die politischen Parteien. Ob es sie denn überhaupt geben müsse? Doch, meinte Schmidt, schließlich gebe es sie auch in Luxemburg, das viel kleiner sei als Deutschland, und sogar in den USA. Wer sollte denn, gäbe es keine Parteien, die Parlamentskandidaten nominieren? Auch die Parteitage, so könnte man diese Argumentation fortsetzen, wären wohl ziemlich schlecht besucht. Obwohl die Parteien sich zuviel Macht angeeignet hätten, seien doch eigentlich die Medien das größere Übel: Talkshows auf allen Kanälen, und niemand guckt Parlamentsdebatten.

Was mit höherem Blödsinn begann, endete in Platitüden. Und schließlich blieb nur ein Gedanke kleben: Schmidt schlug eine Novelle des Parteiengesetzes vor. Spenden solle künftig nur noch abliefern dürfen, wer auch wahlberechtigt ist - Ausländer, Unternehmen und Verbände also nicht. Aber das hätte er vielleicht auch in 45 Sekunden sagen können.

Andreas Schmidt, der »Präsident und Chief Executive Officer von AOL Europe«, war im folgenden Monat eingeladen, und Herzog erklärte ihm das Internet. Schmidt begriff schnell, aber nicht alles. Es gehe nicht um Technologien, sondern um Techniken, stellte Herzog zu Beginn der Sendung kategorisch fest: »Ich sage bewusst nicht 'Informationstechnologien', denn das ist etwas anderes. Ich spreche also von den Informationstechniken.« Nach etwa zwanzig Minuten wagte Schmidt ein paar eigene Ideen: Die neue Kommunikationstechnologie sei manchmal schneller als das Telefon, und ganz toll sei es doch, dass beispielsweise ein Malermeister aus Saarbrücken sich mit Hilfe der neuen Technologie um Aufträge in Japan bewerben könne. Demnächst würden wir wohl auch unsere Lebensmittel im Internet bestellen, und dann entstehe an jeder Straßenecke ein Tante-Emma-Laden, um den Kram auszuliefern. So eröffne die neue Technologie auch auf dem Arbeitsmarkt ganz neue Chancen und Möglichkeiten.

Der Mann redete sich um Kopf und Kragen, und auch seine Forderung, es müsse »jetzt schnell ein digitaler Ruck durch die Gesellschaft gehen«, half nicht mehr. Herzog hatte sich insgeheim längst von seinem Gast verabschiedet und drang nur noch aufs Publikum ein. Wir sollten unsere Kinder der neuen Technik nicht schutzlos ausliefern, es sei überaus wichtig, dass »die Großeltern dabei ihre Lebenserfahrung nicht nur an ihre eigenen Kinder, sondern an die Enkel weitervermitteln können. Denn es ist ja sehr wohl einiges an Erfahrung nötig, um den Kindern eine sinnvolle Auswahl der Informationen möglich zu machen. Wir haben ja vorhin schon über diese pornografischen Dinge und diese politischen und weltanschaulichen Radikalismen gesprochen: Auf diesem Gebiet können die Großeltern im Allgemeinen sehr viel eher auf die Enkel einwirken als sonst jemand.« Schmidt verstand nichts mehr und kapitulierte: »Ja, so ist es. Absolut.«

In der bisher letzten Folge seiner Show präsentierte Herzog der Öffentlichkeit erstmals einen gewissen Lothar Späth, der angeblich irgendwo im Osten einen Industriebetrieb leitet und dereinst sogar ein höheres politisches Amt ausgefüllt haben soll. Wer ihn schon nach 45 Sekunden abschnitt, versäumte eine kleine Perle der Gesprächstechnologie.

Späth: »Früher kam der Opa mit seinem Werkzeugkasten an und hat das Haus in Ordnung gebracht. Heute wartet der Opa, bis der Enkel kommt und ihm das Videogerät einstellt.«

Herzog: »Ja gut, das ist richtig.«

Späth: »Aber auch das ergibt einen Dialog der Generationen.«

Herzog: »Ja, das gibt einen Dialog. Hier ist vor allem bei der Wahrnehmung und der Ausnutzung der ungeheuren Informationsmöglichkeiten, die die Enkel heute haben, die Lebenserfahrung der Großeltern gefragt. Das kann eine große Rolle spielen, denn es ist ja eines unserer zentralen Themen, woher wir die richtigen Informationen nehmen.«

So ist es. Absolut. Aber warum sagt er das abends um acht im Bayerischen Fernsehen und nicht morgens um acht auf dem Kinderkanal?