»Der Kick und die Ehre«

Ladendieb in Littletown

Hans-Volkmar Findeisen und Joachim Kersten räumen in »Der Kick und die Ehre« mit den gröbsten Missverständnissen zum Thema Jugendgewalt auf, produzieren aber gleich noch ein paar neue.

Gewalt hat einen Sinn, zumindest für diejenigen, die gewalttätig werden; das gilt für Erwachsene wie für Jugendliche. Berufsaufgeregte Wächter der öffentlichen Ordnung behaupten allerdings gelegentlich das Gegenteil: Sie sprechen von der »Sinnlosigkeit« der Gewalt, meinen freilich etwas anderes, denn in Wirklichkeit sprechen sie vom Werteverfall.

Zwei, die wohl wissen, dass das falsch ist, und sich deshalb anschicken, die Schwächen erregter öffentlicher Diskurse bloßzulegen, haben darüber ein Buch geschrieben: »Der Kick und die Ehre. Vom Sinn jugendlicher Gewalt«. Der Journalist Hans-Volkmar Findeisen und der Kriminalsoziologe Joachim Kersten spannen darin einen weiten thematischen Bogen. Auf den ersten 150 Seiten geht es um gewalttätige Cliquen und Szenen, um die »Brennpunkte« von Jugend-Gewalt in der Bundesrepublik. Der zweite, internationale Teil beschäftigt sich im weitesten Sinne mit verschiedenen Formen einer restorative justice und schaut dazu nach Chicago, Südafrika, Australien und Japan.

Findeisen und Kersten verwerfen die Forderungen der Hardliner nach flächendeckender geschlossener Unterbringung von straffällig gewordenen Jugendlichen und die nach Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters. Die Mehrzahl der Fälle jugendlicher Delinquenz sei auf dem Wege einer »wiedergutmachenden Justiz« besser zu lösen. Dazu nehmen sie sich der Debatte über eine immer schwierigere Jugend an. Ist sie denn schwierig? Natürlich nicht. Nicht schwieriger als frühere jedenfalls. Jugend-Gewalt habe es immer gegeben, daran werde sich auch in Zukunft nichts ändern. Falsch sei überdies die Ansicht, dass die Täter immer jünger werden, dass Jugendliche gar eine Gefahr für alte Menschen seien, und die häufigste von Kindern und Jugendlichen begangene Straftat sei nach wie vor der Ladendiebstahl.

Diese Einsichten sind beileibe nicht neu, dennoch tun Kersten und Findeisen gerade so, als hätten sie die Konstruktion dieses politisch-medialen Hypes als erste durchschaut. Ihr nächster Angriff richtet sich, zu Recht, gegen die vereinfachenden Thesen des Soziologen Wilhelm Heitmeyer, in denen gewalttätige Jugendliche stets als »desintegriert, orientierungslos, regellos«, bisweilen »amoralisch« beschrieben werden. Und so betrachten es die Autoren als ihre Aufgabe zu zeigen, dass in den gewalttätigen Jugend-Szenen sehr wohl Orientierung, Regeln und Moralvorstellungen existieren, dass Gewalt zudem »Sinn machen« und »identitätsstiftend wirken« könne.

Verstehen wollen sie die Gewalt der »Eckenkrieger, Wochenendberserker und Nationalhalbstarken« und halten hierfür eine »phänomenologisch-hermeneutische Herangehensweise«, die den Sinn- und Identitätskonzepten der Jugend-GewaltGruppen Rechnung trägt, für besonders geeignet. »Begehungen« nennen die Autoren das Abschreiten bestimmter Szenen und Milieus. Vorbeigeschaut haben sie bei der Drogen-Szene im Hamburger Stadtteil St. Georg, bei Russen- und Türken-Cliquen, der Nazi-Jugend in Brandenburg, bei Hools und sogar bei den Autonomen.

Im griffig-dynamischen Stil der Erlebnisreportage setzen die beiden kurze, mitunter polemisch-knackige Sätze aufs Papier und produzieren munter Thesen über die Ursachen von Gewalt, ferner über kollektive Identitäten gewaltbereiter Cliquen und Szenen, statt sich mit der Gewalt selbst als weitgehend unerforschtem Wirklichkeitsbereich auseinanderzusetzen. Doch wer Gewalt in seiner subjektiven und kollektiven Sinnhaftigkeit verstehen will, muss wohl oder übel in den phänomenalen Bereich des Gewalt-Handelns selbst eintauchen und sie dort von den gewalttätigen Situationen aus begreifen, in denen sie häufig erst produziert wird und innerhalb deren es häufig zu Verschiebungen des ursprünglich gemeinten Sinns kommen kann.

Den Sinn von Gewalt zu analysieren verlangt ferner ein Gespür für Entgrenzungslogiken und Eigensinnigkeiten von Gewalt-Prozessen, wie dies Wolfgang Sofsky in seinem »Traktat über die Gewalt« (1996) gezeigt hat. Kurz, wer Erhellendes über Gewalt und ihren Sinn sagen möchte, kann kaum bei einer Erforschung der Gründe und Ursachen von Gewalt stehen bleiben. Zumindest darüber besteht seit Mitte der neunziger Jahre Einigkeit innerhalb der neueren Gewalt-Forschung. Und genau diesen wichtigen Schritt zu gehen, haben die Autoren versäumt.

Abgesehen davon - wie erklären Kersten und Findeisen die Gewalt Jugendlicher? Bei allen konstatierten Differenzen von Russen- und Türken-Cliquen, Nazi-Skins und Hools, gebe es, so Kersten und Findeisen, unterm Strich eine Handvoll identischer Motive und Gründe für die Kämpfe und Prügeleien oder die Jagd auf Schwächere. Zum einen gelte es, »Territorien zu beschützen«. Sind territoriale Ansprüche an den Stadtteil, die Gasse oder das Stadion erst formuliert, liegt die gewaltsame Verteidigung anscheinend auf der Hand. Zum anderen wollten die Jugendlichen auf sich aufmerksam machen.

In den Worten der Autoren heißt das »Sichtbarkeit erzeugen«, teils um des Protests willen, teils, weil es einfach spannend sei, in den medialen Fokus zu geraten. Und natürlich, das gelte im Grunde jedoch nur für Hools (und Autonome), gehe es auch um den Kick, den die Gewalt ins Zeug zu setzen vermag. Über all dem schwebt schließlich noch ein übergeordneter, eher kulturanthropologischer Erkärungsansatz, der meint, Jugend-Gewalt sei eine Weise der »(Wieder-) Herstellung einer männlich dominierten 'Welt', sprich 'hegemonialer Maskulinität'«. Es gehe schlicht um das Wiedererlangen von »männlicher Kontrolle«, und die ziele, so die Autoren, »bei Cliquen und Neonazis, aber auch bei Hools auf das Erzeugen von Nachwuchs und das Beschützen und Versorgen der Gemeinschaft«.

Gäben wir nun - den Gedanken einmal weitergesponnen - den Jungmännern uneingeschränkt ihre Vormachtstellung zurück, wäre es wohl aus mit der Jugend-Gewalt, weil sie ihren tieferen Sinn verloren hätte. Eine soziologisch wie historisch äußerst fragwürdige Idee. Das Schöne ist, dass diese völlig unzureichenden Annahmen über die Entstehungsgründe von Jugend-Gewalt auf den ersten 150 Seiten so oft wiederholt werden, dass man sie am Ende singen kann. Genauso häufig und geradezu geschwätzig in ihrer Redundanz begegnet dem Leser die so genannte Spiegelbild-Hypothese. Danach stellen die Drogenabhängigen von St. Georg das »Spiegelbild« der »'besseren' Hamburger Gesellschaft« dar; »Russenaussiedler und Türkenkids« fänden ihr »gesellschaftliches Gegenüber in der Kleinbürgeridylle grüner Randbezirke«, deren »Schreckensbild« sie durch ihr »vandalistisches Tun« verkörperten. Hools seien die »andere Seite der Fußballgesellschaft und aus ihr nicht wegzudenken«. Sie würden freisetzen, »was der Fußball an Aggressionen« binde.

Und die Ost- und West-Nazis? Spiegeln zwar nichts, verkörpern aber im Falle der Ost-Nazis den »Opferstatus«, den sie sich selber zuschrieben. Der West-Nazi hingegen verkörpert in Kerstens und Findeisens Lesart den telegenen, trotzigen Jung-Parlamentarier. Sind das nun aus subjektiven Sinn-Zuschreibungen der beteiligten Jugendlichen gewonnene Erkenntnisse oder einfach äußerst streitbare, ihrem Erkenntniswert nach kaum relevante Interpretationen, die auf den Effekt einer äußerst bequemen, doch leider grundschiefen Metaphorik setzen? Wer etwas über den Sinn von Jugend-Gewalt oder gar etwas über die Verlaufsformen von Jugend-Gewalt erfahren möchte, wird mit der Lektüre von »Der Kick und die Ehre« kaum zureichend versorgt.

Hans-Volkmar Findeisen / Joachim Kersten: Der Kick und die Ehre. Vom Sinn jugendlicher Gewalt. Antje Kunstmann, München 1999, 250 S., DM 29