The Mayor Is a Superstar!

Der Politiker als Pop-Ikone: Die konsequente Umsetzung von Tony Blairs Erfolgsrezept wird Ken Livingstone am 4. Mai das Bürgermeister-Amt in London einbringen.

Zum ersten Mal in der zweitausendjährigen Geschichte ihrer Stadt werden die ihrer Stadt werden die Londoner am 4. Mai ein Stadtoberhaupt selbst wählen. Und die Wahlforscher sind sich einig, dass die Wahl für New Labour eine Niederlage werden wird, welche die Partei wohl weitere zweitausend Jahre nicht vergisst: Exakt dreimal so viele Stimmen vereint in den letzten Umfragen der unabhängige Kandidat Ken Livingstone auf sich wie Tony Blairs Favorit Frank Dobson. Der frühere Gesundheitsminister Dobson bewegt sich wie Steven Norris, der Kandidat der Konservativen, und die Liberaldemokratin Susan Kramer zwischen zehn und 15 Prozent. Seit Anfang vergangener Woche nimmt Londons größter Buchmacher William Hill keine Wetten auf den Wahlsieg von Livingstone mehr entgegen, weil er das Rennen bereits für entschieden hält.

Ken und die drei Zwerge: So hatte sich Blair das nicht vorgestellt, als er den Londonern Anfang 1997 das Wahlkampfversprechen gab, sie würden, Zustimmung in einem Referendum vorausgesetzt, einen Bürgermeister und eine oberste Planungsbehörde wählen können. Ein Jahr nach dem Wahlsieg von New Labour sprachen sich 72 Prozent der Londoner für die Bürgermeister-Wahl aus, und im März 1999 erklärte Livingstone als einer der ersten seinen Wunsch, für das höchste Amt der Hauptstadt zu kandidieren.

Diese Ankündigung überraschte damals niemanden. Von 1981 bis 1986 hatte Livingstone dem Greater London Council (GLC) vorgestanden, der obersten Verwaltungsbehörde der sieben Millionen Einwohner zählenden Themse-Metropole. Er kommandierte ein Heer von 20 000 Beamten, denen die Verwaltung sämtlicher öffentlicher Dienste Londons oblag. Livingstone zählte zum linken Labour-Flügel, und sein Ruhm gründete sich darauf, dass er mitten in der stockkonserativ-neoliberalen Thatcher-Ära nicht bei der Regierung um Gutwetter und Subventionen bettelte, sondern die Konfrontation suchte.

Auf dem Weg zur Arbeit musste die Regierungschefin täglich ein Transparent passieren, das ihr vorzählte, wie viele Arbeitsplätze ihre Politik gekostet habe: Es hing auf Livingstones Anweisung am GLC-Dienstgebäude County Hall am Themse-Ufer - dort, wo heute das »London Eye« steht, das überdimensionale Riesenrad, das Tony Blair zum Gedenken an das Millennium und seine ruhmreiche Regierungszeit errichten ließ. County Hall gibt es nicht mehr. Schon bald hatte Margaret Thatcher genug von Livingstones Provokationen und schaffte den GLC kurzerhand ab. Die Geschäfte der Hauptstadt werden seitdem direkt aus dem Government Office for London verwaltet, das symbolträchtig in Sichtweite der Labour-Zentrale am Themse-Ufer im Stadtteil Millbank liegt.

Wer hoffte, daran würde sich nach dem Blairschen Wahlversprechen etwas ändern, sah sich bald enttäuscht. Zu groß war die Verlockung, in der mit Abstand wichtigsten Stadt des Inselreichs mitzuregieren. Und zu groß die Gefahr, dass sich einer wie Livingstone für die Blair-Administration als ebenso unangenehm erweisen könnte wie für die Regierung Thatcher.

Von vorne herein versuchte der neu gewählte Premier den Renegaten, der von seinem Sitz auf der hintersten Bank des House of Commons aus den Rechtsruck der Labour Party bitter und bissig kommentiert hatte, von der Kandidatur fernzuhalten. Als sich Mitte 1999 abzeichnete, dass Livingstone bei der von Blair versprochenen Urwahl durch die Londoner Labour-Mitglieder wohl siegen würde, griff der Regierungschef zu schmutzigen Tricks. Der Gegenkandidat Dobson erhielt die Liste der Parteimitglieder drei Monate vor Livingstone, vor allem aber setzte die Parteizentrale ein Wahlverfahren durch, das Livingstone krass benachteiligte: Statt »One member, one vote«, wie ursprünglich zugesagt, bekamen Parlamentsabgeordnete - die mehrheitlich Blair und Dobson nahe stehen - das Gewicht von je etwa 1 000 gewöhnlichen Stimmen.

Der Presse - und zwar sowohl der konservativen wie der Labour nahe stehenden - waren die Intrigen gegen den Dissidenten ein steter Quell der Belustigung. Als Livingstone am 20. Februar wegen des Wahlverfahrens knapp unterlag, obwohl er eindeutig die Mehrheit der Partei-Mitglieder hinter sich hatte, war es jedem klar, dass er ein Opfer der »Control Freaks« geworden war, jener Blair-Treuen in Millbank, die eine demokratische Personalentscheidung einfach nicht zulassen konnten. Zwei Wochen später gab Livingstone seine Kandidatur als Unabhängiger bekannt und wurde prompt aus Labour ausgeschlossen. Zu dieser Zeit lag er in Umfragen bei fast 70 Prozent der Wählerstimmen.

Der dernier cri sind in London jetzt T-Shirts, die einem auf den ersten Blick bekannt vorkommen: Ein schwarzes Konterfei in hartem Kontrast auf rotem Grund, dazu ein Schriftzug aus drei Buchstaben. Aber nicht »CHE« steht da, sondern »KEN«. Livingstone als Pop-Ikone: Das ist bestimmt nicht die Reaktion auf ein Programm, das, so schwammig es formuliert ist, doch deutlich macht, dass in London ganz bestimmt keine Revolution ausbrechen wird. Sondern es ist die Verbeugung vor dem Mythos des ewigen Renegaten, der unter Druck erst richtig in Form kommt. Und damit auch vor dem Siegertypen Livingstone: Das System wollte ihn kleinkriegen, aber er ist stärker als das System.

Bei soviel Mythos hatte es Livingstone - und das war wahrscheinlich sein großes Glück - gar nicht mehr nötig, einen inhaltlichen Wahlkampf zu führen. Die Haupt-Auseinandersetzung drehte sich um die Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs, eines der ganz wenigen Gebiete, auf denen die neu gebildete Greater London Authority größere Summen bewegen wird. Insbesondere die Tube - die Londoner U-Bahn, die täglich von 2,5 Millionen Fahrgästen benutzt wird - hat eine Generalüberholung nötig, die wohl mehrere Milliarden Pfund verschlingen wird.

Livingstone kündigte an, das Geld durch eine Sonderabgabe für Autofahrer aufzubringen, die in die Londoner Innenstadt fahren. Dobson erkannte seine Chance und stellte die fantastische Summe von 150 Pfund (255 Euro) monatlich in den Raum, die Autofahrer zu berappen hätten. Livingstone dementierte, dass es bereits irgendwelche Erwägungen zur Höhe der Abgabe gebe, und damit war die Sache bereits ausgestanden.

Fast. Denn ein paar Tage später stellte der Guardian klar, dass der Streit eigentlich um nichts geführt worden war: Längst schon ist die von der Blair-Regierung favorisierte »Public-Private Partnership« für die Tube beschlossene Sache. Livingstone hatte diesem Konzept der U-Bahn-Finanzierung zwar von Anfang an ablehnend gegenüber gestanden, aber auch als Mayor of London wird er nicht die Kompetenz haben, es zu ändern.

Eine reine Propagandaschlacht also. Livingstones Popularität tat es aber kaum einen Abbruch. Die litt auch nur ein kleines bisschen, als ihm am 10. April im Rahmen eines linkspopulistischen Redeschwalls die Bemerkung herausrutschte, »das internationale Finanzsystem« hätte »mehr Menschen umgebracht als der Zweite Weltkrieg«, Hitler könne man aber immerhin zugute halten, dass er ja verrückt gewesen sei. Jüdische Gruppen warfen Livingstone vor, den Holocaust herunterzuspielen.

Auch als Livingstone mehr und besser bezahlte Polizisten und die Anlage von DNA-Datenbanken ankündigte, war kein merklicher Abwärts-Trend in den Umfragen erkennbar. Law and Order ist in Großbritannien längst nicht mehr nur »a Labour issue«, sondern ebenso eine Angelegenheit der Labour-Linksabweichler. Und über 50 Prozent der Stimmen holt auch in London keiner (keine) mehr, der (die) sich nicht als starker Mann (starke Frau) gebärdet.

Dass alle Kandidaten daneben noch um die Stimmen der verschiedenen Special Interest Groups buhlen, gehört zum Geschäft. Dobson geht mit einem bekannten afrobritischen Fernsehmoderator als Vize ins Rennen und schielt auf die Stimmen der rund 1,5 Millionen dunkelhäutigen Wähler. Livingstone, dem die Konservativen schon während seiner Zeit an der Spitze des GLC vorwarfen, Geld für »Schwulenkram« zu verschleudern, will Homo-Ehen anerkennen. Angesichts von schätzungsweise einer halben Million lesbischer und schwuler Wähler gibt sich selbst der Konservative Norris wesentlich toleranter als der derzeitige Mainstream seiner Partei und will die Polizei sogar bei öffentlichem Sex im Rahmen von Homo-Szenen ein Auge zudrücken lassen.

Und ausgerechnet die Liberaldemokratin Kramer, eine spröde Bankerin, die öffentliche Auftritte regelmäßig vermasselt, will mit einem modisch gemeinten Wahlkampf-Song die junge Generation ansprechen: »Got a pair of Doc Martens on my feet; I got places to go, I got people to meet; I'm moving to the rhythm of the London beat.«

So hoffen alle Kandidaten darauf, dass etwas vom Glamour des »Swinging London« auf sie fällt, von jener Epoche der Toleranz und der kulturellen Blüte, die in jedermanns Wahrnehmung - rassistische Morde hin oder her - nach dem Ende der konservativen Vorherrschaft ausgebrochen ist. Zwar hat keiner von ihnen auch nur einen blassen Schimmer von dem in der Tat boomenden Kultursektor, der in London mittlerweile 400 000 Menschen beschäftigt. Aber Livingstone scheint immerhin die Kulturschaffenden auf seiner Seite zu haben: Filmleute erscheinen auf Premieren mit Anzügen, die mit seinem Konterfei bedeckt sind, Popgruppen wie Blur und Fatboy Slim spielen für ihn, und selbst der Chef des altehrwürdigen National Arts Collections Fund fordert ganz im Livingstoneschen Stile freien Eintritt für alle.

Dabei wird es mit Sicherheit nicht in Livingstones Macht liegen, bedeutende Geldströme in den Kultursektor oder wohin auch immer zu lenken. Seine Behörde wird nicht mehr wie der GLC 20 000 Menschen beschäftigen, sondern nur 400, und der größte Teil jener 3,3 Milliarden Pfund jährlich, die sie zum Ausgeben hat, ist zweckgebunden für den öffentlichen Nahverkehr. Damit kann Livingstone auch der New-Labour-Regierung nicht wirklich gefährlich werden.

Unangenehm werden kann er aber doch. Nach dem des Premiers dürfte sein künftiges Amt dasjenige sein, das in der Öffentlichkeit am stärksten wahrgenommen wird, und Ken Livingstone ist nicht der Mann, der eine solche Plattform nicht zu nutzen wüsste. Er wird es verstehen, Auseinandersetzungen in der Sache hinter geschlossene Ausschuss-Türen zu verlagern, um die Regierung in der Öffentlichkeit um so heftiger angreifen zu können.

Pop als Propaganda, Personalisierung statt eines Programms, linke Rhetorik statt linker Politik: Livingstone imitiert die Methoden Tony Blairs, und zur Zeit erledigt er diesen Job besser als das Vorbild. Wenn Blair den Schmerz über die Niederlage verwunden hat, wird er sich vielleicht im Stillen darüber freuen, dass er zwar eine Wahl-Schlacht verloren, aber den Krieg um die viel nachhaltigere Verschiebung des politischen Diskurses gewonnen hat.