Feindbilder und Raketenabwehr

Wanted: Schurken-Staaten

Amerika hält an den Plänen zu einem Raketenabwehr-System fest. Lohn der Angst, die die Militär-Strategen den Politikern mit ihrer Schurken-Staaten-Doktrin gemacht haben.

Was machen Militärs, wenn der langjährige Feind vernichtend geschlagen ist und der Siegestaumel abklingt? Sie beginnen zu ahnen, dass sie mit ihrem Gegner auch die eigene Existenzberechtigung verloren haben könnten. Dieser Identitätskrise sah sich die US-Armee nach dem Ende des Kalten Krieges ausgesetzt. General Colin Powell beispielsweise trauerte der »Sorge um den Dritten Weltkrieg« hinterher, die ihn fast seine gesamte Dienstzeit so treu begleitet hatte und mit dem Mauerfall plötzlich gegenstandslos wurde.

Aber ihn und seine Kollegen plagte nicht nur der Horror vacui. Die Zivilisten starteten eine Offensive und forderten die Zahlung einer Friedensdividende ein: weniger Rüstungsausgaben und mehr Geld für Bildung, Gesundheit und Soziales. Einige von ihnen zitierten mahnend Paul Kennedy, der 1995 in seinem Buch »The Rise and Fall of the Great Powers« bei einem anhaltend hohen Militär-Budget den Untergang des US-amerikanischen Imperiums voraussagte. Und der Kongress nahm die Diskussion auf und kündigte an, den Wehretat drastisch zu kürzen. Army, Verteidigungspolitiker und Rüstungsindustrie waren in Alarmbereitschaft versetzt. Sollte es ihnen nicht gelingen, den Abgeordneten eine glaubwürdige Bedrohung der nationalen Sicherheit zu liefern, so konnte der Gerätepark der Streitkräfte kaum noch auf Zuwachs hoffen.

Die neue Feind-Bestimmung führte auf sehr verschlungenen Wegen zum Erfolg. Zunächst versuchte man es aus alter Gewohnheit wieder mit dem Lieblingsfeind Sowjetunion / Russland, wie Michael Klare in seinem Buch »Rogue States and Nuclear Outlaws« darlegt. Verteidigungsminister Dick Cheney machte noch imperiale Gelüste des Landes auf Staaten der Dritten Welt aus und plädierte dafür, auch das post-kommunistische Russland als Rivalen zu betrachten. Dieser Wiederbelebungsversuch des einstigen »Reiches des Bösen« scheiterte allerdings.

Während der 92er-Budget-Verhandlungen dann versuchte Colin Powell, inzwischen Hauptverantwortlicher für die Strategie-Planung, aus der Feindesnot eine Tugend zu machen. »Die eigentliche Bedrohung, der wir jetzt gegenüberstehen, ist die Bedrohung durch das Unbekannte, das Ungewisse«, formulierte er in der »Nationalen Militär-Strategie«. Aber den Kongress lehrte Powell damit nicht das Fürchten. Das Haus beschloss eine Mittel-Kürzung um 25 Prozent und behielt sich weitere Einschnitte vor, falls das für 1993 angemahnte Strategie-Konzept ähnlich nebulös ausfallen sollte.

In dieser Notlage erinnerten sich die Militärs an Reagans Kampf gegen den internationalen Terrorismus und erklärten den machtlüsternen Dritt-Weltstaat zum Public Enemy No.1. Nun war jedoch mit einem Szenario in der Art Libyen versus USA der Etat aus den Zeiten des Kalten Kriegs nicht annähernd zu halten, da das Machtgefälle zwischen beiden Staaten allzu deutlich wurde. So schmiedeten die Pentagon-Strategen aus dem Iran, Irak, Libyen, Sudan, Kuba und Nordkorea die fiktive Allianz »Schurken-Staaten«. Im Folgenden musste die neue Bedrohungskulisse nur noch ein bisschen herausgeputzt werden. Deshalb tauchten Begriffe wie rogue states, nuclear outlaws, backlash states, renegates und mavericks in der Öffentlichkeit immer häufiger auf. Der mühsam konstruierte Gegner machte sich so gut, dass die US-Streitkräfte durch die in der Bottom-Up Review entworfene Militärdoktrin finanziell in die Lage versetzt wurden, gegen zwei Schurken-Staaten gleichzeitig Krieg zu führen. Damit hatte die Armee einen bedeutenden Sieg an der Heimatfront errungen.

Im April 1990 hatte das Weiße Haus die neue strategische Ausrichtung offiziell abgesegnet. Knapp vier Monate später tat Saddam Hussein den US-Militärs mit seinem Überfall auf Kuwait den Gefallen, dem ausgeschriebenen Feindbild ein Gesicht zu geben. Die erfolgreich abgeschlossene Operation Desert Storm gab der Schurken-Staat-Doktrin dann gehörigen Auftrieb.

Zur bevorzugten Waffe im Kalten Krieg gegen die Böse-Buben-Länder machten die Vereinigten Staaten die Sanktionen, deren Folgen hauptsächlich die Bevölkerung, nicht aber die politisch Verantwortlichen treffen. Einen neuen Dämon, der ebenso energisch bekämpft werden musste wie einst der Kommunismus, hatten die USA ausgemacht: Die Proliferation und Weitergabe von Massenvernichtungswaffen an Schurken-Regime. Im August 1993 führte das zu einer ersten ernsthaften diplomatischen Krise. Kriegsschiffe der US-Navy hinderten einen chinesischen Frachter daran, seine Ladung in einem iranischen Hafen zu löschen. Der Geheimdienst hatte an Bord Chemiewaffen-fähiges Material geortet - fälschlicherweise, wie sich bei der nachfolgenden Durchsuchung herausstellte.

Im Frühjahr 1994 stand Amerika sogar am Rand eines Krieges. »Schurke« Nordkorea hatte einer internationalen Kommission die Inspektion seiner Atomanlagen verweigert. Als alle Drohungen nichts nützten, bereitete das Pentagon sich schon auf Desert Storm II vor - Bündnispartner Südkorea sollte schließlich geschützt werden. Der fühlte sich nur leider gar nicht gefährdet. Südkorea hoffte vielmehr, nach der Wiedervereinigung mit dem Norden selbst in die Liga der Atommächte aufzusteigen. Samuel Huntington spricht in seinem Buch »Der Kampf der Kulturen« süffisant von einer »Paniklücke« zwischen Seoul und Washington. Jimmy Carter gelang es mit seiner Vermittlungsmission schließlich in letzter Minute, die Eskalation zu verhindern.

Die herbeigeredete Bedrohung durch »Schurken-Raketen« (US-Verteidigungsminister William Cohen) liefert auch die Begründung für das derzeit ehrgeizigste Rüstungsvorhaben der Vereinigten Staaten. Obwohl lediglich chinesische Raketen über die Reichweite verfügen, um Ziele in den USA treffen zu können, planen Militär-Strategen ein Raketenabwehrsystem. Voraussichtlich im Juni soll endgültig über das Programm entschieden werden. Auswirkungen hat das Projekt aber schon jetzt.

Da die USA damit gegen den ABM-Vertrag von 1972 über die Begrenzung ballistischer Raketenabwehr verstoßen, kommen die Abrüstungsverhandlungen mit China kaum noch voran. Russland hielt wegen der amerikanische Pläne lange Zeit seine Unterschrift unter das Start-II-Abkommen zurück. Auch die Europäer stehen den »Exoatmospheric Kill Vehicles« skeptisch gegenüber. Sie sehen in ihnen den Auftakt zu einem neuerlichen Wettrüsten und den Vorboten verstärkter strategischer Alleingänge der USA.

Genau bestimmt ist das Feindbild »SchurkenStaaten« nicht. Die Mitgliedschaft im Club kann potenziell jedes Land erringen, das nicht der »westlichen Wertegemeinschaft« angehört und Anstalten macht, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen. Anthony Lake, Clintons Sonderbeauftragter für nationale Sicherheit, erstellte 1994 folgendes Täter-Profil: Cliquen-Herrschaft, radikale Ideologie, Missachtung der Menschenrechte, Ablehnung demokratischer Verfahren und Unwille zur Kooperation auf internationaler Ebene.

Da der Islam in vier der sechs »Verbrecherstaaten« einen starken Einfluss ausübt, nahm der virtuelle Steckbrief zunehmend konkrete Züge an. Wertvolle erkennungsdienstliche Hinweise lieferte dabei Samuel Huntingtons »Kampf der Kulturen«, der seine Grundthesen erstmals 1993 in Foreign Affairs, dem Zentralorgan amerikanischer Außenpolitik, veröffentlichte. Nach Ansicht Huntingtons hat die Globalisierung nicht zu einer Universalkultur geführt, sondern zu einem hochexplosiven Gemisch aus alten und neuen Elementen. Er skizziert folgendes Schreckensszenario: »Irgendwo im Nahen Osten kann es sehr wohl ein paar junge Männer in Jeans geben, die Coca Cola trinken und Rap hören, aber zwischen Verbeugungen in Richtung Mekka eine Bombe basteln, um ein amerikanisches Flugzeug in die Luft zu jagen«. Zum Schutz vor den Kindern von Allah und Coca Cola mahnt Huntington dann dringlich eine Erhöhung des Verteidigungsetats an.

Die Schurken-Staat-Doktrin ist in der Anwendung aber flexibel genug, um auch auf andere Länder als islamische zuzutreffen. In den Überlegungen von Politikern und Militärs funktioniert sie als ein Raster, das Handlungen von Staatsmännern nach dem Freund/Feind-Schema sortiert. Und haben die USA das Verdikt »Schurken-Staat« erst einmal über eine Nation verhängt, so fällt diese aus dem Zuständigkeitsbereich von Politik und Diplomatie heraus und wird den Militärs überantwortet. Allein im letzten Jahr starben 144 Iraker durch amerikanische und britische Bomben-Angriffe. »Man kann in der Tat die amerikanische Haltung zu Kosovo nur verstehen, wenn man das jugoslawische Regime als ein schurkisches betrachtet«, schreibt Barry Rubin, der stellvertretende Leiter des israelischen Begin-Sadat-Centers für strategische Studien in der Zeitschrift Internationale Politik.

Inzwischen allerdings steht die »Schurken-Staat-Doktrin« zur Disposition. Vor allem Wirtschaftskreise drängen darauf, sie aufzugeben, da sie bisher keinen der Schurken-Präsidenten zur Strecke gebracht habe und den amerikanischen Außenhandel einschränke. Aber Effizienz-Kriterien waren noch nie ein Maßstab für militärpolitische Entscheidungen. So wird es wohl so lange Schurken-Staaten geben, bis ein neuer Feind gefunden ist.