Fischers Europa-Rede

Come-Back im Hörsaal

Joseph Fischer meldet sich zurück: In der Berliner Humboldt-Universität machte sich der Außenminister für die alten EU-Pläne der CDU stark. Was Unionspolitiker Konzept Kerneuropa nannten, soll künftig Option Gravitationszentrum heißen.

Was war nur los mit Deutschlands einstmals beliebtestem Politiker? Wochenlang war fast nichts zu hören und zu sehen von Joseph Fischer. Kein erhabenes Treppen-Hinunterschreiten vor laufenden Fernsehkameras. Keine Küsse für die US-Amtskollegin Madeleine Albright. Keine bedeutungsschweren Interviews in Zeitungen und Nachrichtenmagazinen, keine Fotos, auf denen ein sorgenfaltenzerfurchter Außenminister gütig über den Rand seiner Brille lugt.

»Was ist los mit Fischer?« - diese Frage stellte sich und der gesamten Nation auch der Spiegel in einer seiner letzten Ausgaben. In der Chefetage des Auswärtigen Amtes herrsche nur noch »Hoffart und fast Autismus«, der sonst so asketische Außenminister habe gar wieder etwas »Kummerspeck« zugelegt. Und das Schlimmste für das Nachrichtenmagazin, das von Fischer sonst artig mit Exklusiv-Interviews versorgt wird: Bei seinem Osterurlaub in Italien habe sich Fischer gar »gegen alle Fragen abgeschottet«.

Höchste Zeit also für den Minister, mal wieder Welt-, sprich Medienbewegendes von sich zu geben und so den Frust der vergangenen Wochen hinter sich zu lassen: Die Schlappe mit der Parteireform auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Karlsruhe zum Beispiel. Oder die unangenehme Sache mit den vom Außenminister persönlich gutgeheißenen Hermes-Bürgschaften für ein chinesisches Atomkraftwerk. Und so holte Fischer vergangene Woche zum großen Rückschlag aus: In der Berliner Humboldt-Universität erläuterte er öffentlichkeitswirksam seine Vorstellungen über die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union.

Was der Außenminister da vor Diplomaten, Studenten und natürlich zahlreichen Pressevertretern zum Besten gab, hat aber vor allem eines deutlich gemacht: Dass es in der bürgerlichen Demokratie, von ein paar Nuancen abgesehen, ziemlich egal ist, wer gerade die Regierung stellt. Denn was Fischer da als bahnbrechende Visionen für ein zukünftiges Europa verkauft hat, ist im Grunde ein alter Hut der Kohl-Regierung. Fischer kochte die Konzeption »Kerneuropa« noch einmal auf, die 1994 von Wolfgang Schäuble und dem damaligen außenpolitischen Sprecher der CDU-Fraktion Karl Lamers entworfen wurde und die zu scharfen Protesten anderer EU-Staaten wie Italien oder Großbritannien geführt hatte. Nur heißt das Ganze bei Fischer nicht »Kerneuropa«, sondern »Gravitationszentrum«.

Dahinter steckt das Konzept vom »Europa der zwei Geschwindigkeiten«. Die Argumentation: In einer nach Osten erweiterten Europäischen Union, die irgendwann wohl an die 30 Mitglieder zählen wird, wächst die Gefahr, dass Europa unregierbar wird. Deshalb müssen die europäischen Institutionen auf Vordermann gebracht werden - was vor allem heißt, dass das Prinzip der Einstimmigkeit im Europäischen Rat geschleift wird zu Gunsten von Mehrheitsentscheidungen. Und weil auch das noch nicht reicht, müssen die Staaten, die zu einer stärkeren Integration fähig und willig sind, sich enger zusammenschließen, während der Rest außen vor bleibt - so wie es beim Euro ja bereits der Fall ist.

Die »Finalität Europas« stellt sich Fischer dann folgendermaßen vor: Die Union soll sich zur Föderation mit einem zwei Kammern umfassenden gesetzgebenden Parlament, einer Regierung und einer europäischen Verfassung wandeln. Diese Verfassung soll regeln, welche Fragen von den nationalen Parlamenten und welche auf europäischer Ebene entschieden werden. Damit all das verwirklicht werden kann, sei ein »bewusster politischer Neugründungsakt Europas« notwendig. Die »Option Gravitationszentrum« könne einen Zwischenschritt in diese Richtung bedeuten.

Nicht überall dürfte Fischers neuverpacktes Kerneuropa-Konzept auf Begeisterung stoßen. Vor allem mit Großbritannien ist derzeit weder ein Europa der zwei Geschwindigkeiten noch ein wie auch immer gearteter »europäischer Superstaat« zu machen. Und so hatte Fischer in seiner Rede in der Humboldt-Universität gleich doppelt vorgebaut, um nicht zu viel Staub aufzuwirbeln. Seine »Visionen« für ein zukünftiges Europa seien nur als Meinung eines »Privatmannes« zu verstehen, nicht als offizielle Haltung des Außenministers. Außerdem handle es sich um langfristige Visionen, die erst in Jahrzehnten verwirklicht werden könnten. Die Reaktion aus London kam trotzdem prompt: Fischers Äußerungen seien eine »Minderheitsmeinung« innerhalb er EU, konstatierte der britische Europa-Minister Keith Vaz.

In Deutschland dagegen ist das Konzept Kerneuropa in der politischen Kaste längst mehrheitsfähig und bildet offenbar die Basis für die deutsche Europapolitik - unabhängig davon, wer die Regierung stellt. Handlungsfähigkeit heißt das Zauberwort, mit dem Fischer/Schäuble/Lamers ihre Vorstellungen von einem zukünftigen Europa begründen. Und natürlich geht es dabei vor allem um die Handlungsfähigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik - vulgo: um militärische Handlungsfähigkeit.

Damit Europa beim nächsten Krieg auf dem Balkan, in Nordafrika oder sonstwo nicht mehr auf US-amerikanische Hilfe angewiesen ist, soll nicht nur der Europäische Pfeiler der Nato gestärkt, sondern auch eine eigene Euro-Armee aufgebaut werden - etwa durch die Wiederbelebung der Westeuropäischen Union (WEU), für die sich auch Fischer seit Beginn seiner Amtszeit vehement einsetzt. In his own words: »Die europäischen Staaten haben, gerade unter dem Eindruck des Kosovo-Krieges, weitere Schritte zur Stärkung ihrer gemeinsamen außenpolitischen Handlungsfähigkeit ergriffen und sich in Köln und Helsinki auf ein neues Ziel verständigt: Die Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.«

In der EU aber gibt es immer noch Staaten, die weder der Nato noch der WEU angehören - z.B. Schweden, Finnland oder Österreich. Und weil diese Staaten sich im Ernstfall gegen ein militärisches Eingreifen wenden könnten - Österreich beispielsweise verbot während des Kosovo-Krieges Nato-Flugzeugen das Überfliegen seines Luftraumes - können Militäreinsätze der EU in aller Welt nur dann durchgesetzt werden, wenn die bislang vorgeschriebene Einstimmigkeit bei wichtigen Fragen in der EU abgeschafft wird oder eben einige EU-Staaten ihr eigenes Süppchen kochen, um unbehelligt von irgendwelchen Quertreibern Krisenintervention betreiben, sprich Krieg führen, zu können.

Wie viele Staaten bei dieser »Avantgarde« (Fischer) dabei sein dürfen, ist umstritten: Der einstige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors plädiert z.B. für die sechs Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft, also für Frankreich, Deutschland, Italien und die Benelux-Staaten, Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing sprechen sich für einen größeren Kreis von elf Staaten aus. Für Fischer ist eines jedenfalls klar: »Ohne engste deutsch-französische Zusammenarbeit wird auch künftig kein europäisches Projekt gelingen.«

Und das bedeutet in militärischer Hinsicht vor allem eines: Die neue Militärmacht Kerneuropa samt seiner Hegemonialmacht Deutschland würde auch über Atomwaffen verfügen - die französische Force de frappe. CDU-Außenpolitik-Experte Lamers war schon vor fünf Jahren von der Aussicht auf einen deutschen Zugriff auf Atomwaffen begeistert: »Vor allem muss die europäische Nuklearkomponente integrierter Teil einer wirklich existenten Verteidigungspolitik und einer gemeinsamen europäischen Verteidigung, d.h. gemeinsamer militärischer und handlungsfähiger politischer Entscheidungsstrukturen sein.«

Bislang ist man mit der gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU allerdings noch nicht so recht weitergekommen. Vor allem die kleinen und die neutralen Staaten haben berechtigte Bedenken, dass sie in Europa in Zukunft nur noch die zweite Geige spielen und von den ohnehin jetzt schon einflussreicheren großen Staaten noch mehr an die Wand gedrückt werden könnten. Denn selbst wenn - wie Fischer fordert - das Gravitationszentrum im Kern Europas für alle anderen EU-Staaten offen bleiben soll, so bedeutet dieses Konzept doch im Endeffekt nichts anderes, als dass Kerneuropa die Geschwindigkeit und die Richtung der Integration vorgibt. Den anderen Staaten bleibt dann nur die Wahl, hinterherzuhecheln, um irgendwann aufzuspringen, oder ausgeschlossen zu bleiben.

Worum es ihm vor allem geht, erklärt der Außenminister dann, jetzt mit neuem Schwung, im aktuellen Spiegel: »Das deutsche Interesse ist im europäischen aufgehoben. Genau deshalb sind wir doch die großen Gewinner der europäischen Integration.«