Mehrheit für Dienstleistungsgewerkschaft ver.di schwindet

Frei von Mitgliedern

Folgt man der Argumentationskette einiger ÖTV-Oberen, soll in der Gewerkschaft alles so bleiben, wie es nie war. Da muss die Identität der Mitglieder herhalten, wenn es um die Sicherung der Pfründe von hauptamtlichen Funktionären geht. Der notwendigen Veränderung hält man die Tradition entgegen.

Seit über zwei Jahren schon debattieren die Gewerkschafter über die Bildung der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Doch derzeit ist ungewisser denn je, ob es jemals zur Gründung kommen wird: Vergangene Woche erst haben zwei ÖTV-Bezirke den Ausstieg aus dem Projekt beschlossen. Die 80-Prozent-Mehrheit, die auf dem Gewerkschaftstag im November nötig wäre, damit es im Frühjahr 2001 tatsächlich zur Gründung der dann weltgrößten Einzelgewerkschaft kommen kann, liegt in weiter Ferne.

Postgewerkschaft, HBV, IG Medien und ÖTV waren im März angetreten, um sich - gemeinsam mit der nicht zum DGB gehörenden Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG) - zu vereinigen. Nach außen wurde erklärt, man trage damit den veränderten Bedingungen in der Arbeitswelt Rechnung. Zudem werde durch die Fusion gewerkschaftliche Konkurrenz abgebaut.

Jeder Eingeweihte aber weiß, dass die Mammutfusion auch finanziellen Interessen geschuldet ist. Wo Mitglieder wegbleiben, fehlt es an Geld. Vor zehn Jahren herrschte angesichts von Millionen übernommener Mitglieder des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB Goldgräberstimmung. Der Funktionärsapparat wurde aufgebläht. Bald darauf folgte die Ernüchterung: In den vergangenen zehn Jahren haben die Gewerkschaften etwa sechs Millionen Mitglieder verloren.

Das ging an die Substanz und hatte eine gewerkschaftliche Fusions- und Übernahmewelle zur Folge. Von ehemals 16 DGB-Gewerkschaften sind heute nur noch elf übrig. Lediglich zwei Drittel der bundesweit Beschäftigten arbeiten unter dem Schutz des Flächentarifvertrages. Ganze Wirtschaftszweige sind gewerkschaftsfrei.

Seit sich der DGB in seinem Grundsatzprogramm 1996 von der Gegenmachtsthese verabschiedet und den Ansatz auf Aufhebung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit auch politisch aufgegeben hat, reduzierte sich die Rolle der Gewerkschaften auf das Umverteilen in der Klasse. Mit dem Bündnis für Arbeit folgte die offizielle Einbindung in die Regierungspolitik.

Seit langem schon müssen die Arbeitsplatzbesitzer auf Lohnzuwächse verzichten. So stimmten die Call-Center-Beschäftigten des Otto-Versands unlängst auf monatlich 500 Mark. Weitere Beispiele gibt es zuhauf: Innerhalb der ÖTV etwa wird das Tarifgefüge im öffentlichen Personnennahverkehr nach unten korrigiert, um der Konkurrenz durch private Anbieter zu begegnen.

Und so fragen sich viele Gewerkschaftsmitglieder, warum sie der Organisation überhaupt noch treu bleiben sollen, während die Jüngeren erst gar nicht eintreten. Gewerkschaftstage werden zu Vollversammlungen der Vorfeldorganisation der Grauen Panther. Wo nun eigentlich gehandelt werden müsste, zieht man es aber vor, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Doch die Initialzündung für ver.di hat nie die Mitglieder erreicht, dabei könnte die neue Organisation eine Chance sein, die Gewerkschaft wieder handlungsfähig zu machen.

Dafür müssten Funktionäre auf Macht verzichten. Vor solcher Unübersichtlichkeit schrecken sie jedoch zurück, denn die Macht will man lieber für sich behalten. Die meisten Funktionäre scheinen vergessen zu haben, von wem sie bezahlt werden: von den Mitgliedern. Doch die scheinen eigentlich nur zu stören. Deshalb bleiben sie lieber gleich ganz weg.