Emanzipatorische Antimoderne

Das tiefe Tal des Nichts

Die Welt kennt nur noch Verlierer und Unternehmer, die Wüste und ihre Durchquerung. Wie geht es weiter? Eine kleine Bewegungslehre.

Nichts rührt sich mehr nach dem vermeintlichen Ende der Geschichte. Das Leben, das dennoch gelebt werden will, tendiert entweder zum Stillstand oder zu falschen Bewegungen. Trotzdem sind kleine Raumgewinne möglich. Es gibt allerdings ein Buch, das den von Tom Holert formulierten Anspruch einlöst, sich auf den affektiven Gehalt der fasziniert-melancholischen Müll-Schau einzulassen, ohne diesem zu erliegen: das 1990 erschienene »La Peur du vide« (»Die Angst vor der Leere«) von Olivier Mongin.

Passenderweise war es selbst auf einem kleinen Müllhaufen der Geschichte gelandet, der Grabbelkiste, in der das Düsseldorfer Institut Fran ç ais ausrangierte Bibliotheksexemplare für eine Mark pro Stück verramscht. Mongin, Direktor der französischen linkskatholischen Monatszeitschrift Esprit, beschreibt in »La Peur du vide«, was alles passieren musste, damit sich im Bewusstsein von immer mehr Menschen der Eindruck festsetzen konnte, es passiere nichts mehr und die Welt sei nichts als ein Nichts, eine Wüste, ein großes Niemandsland. Und dieses grassierende Nichts setze immense (auto-)destruktive Energien frei - das sei das Gefährliche.

Das ausgerufene Ende der Ideologien hat nach Mongin eine verwaiste öffentliche Sphäre geschaffen, in welcher der Markt und ein moralischer Minimal-Konsens die Stelle des Politischen eingenommen haben. Da es »außerhalb von den Unternehmen nichts mehr zu unternehmen gibt«, ist der Citoyen von der Bildfläche verschwunden und hat dem erfolgreichen Geschäftsmann und seinem Gegenstück, dem Verlierer, das Feld überlassen.

Ehrgeiz, Egoismus und Rücksichtslosigkeit treiben den Unternehmer an, während der Verlierer von Angst, Selbstbehauptungswillen und Rachegelüsten umgetrieben ist. Er gerät ins Visier rechtsradikaler Parteien, die das Opfer als Opfer zum politischen Subjekt zu machen verstehen. Für einen rationalen Diskurs bleibt in einem solchen emotionalisierten öffentlichen Raum kein Platz mehr.

In diesem Ödland werden die Menschenrechte und die Erinnerung an den Holocaust als Richtungsweiser in Anspruch genommen. Die Menschenrechte liefern den Vorwand, das Böse in fernste Fernen zu projizieren und es damit zu kulturalisieren. Der sich selbstgerecht als »gut« imaginierende Westeuropäer glaubt so das Recht zu haben, es sich in der besten aller Welten bequem machen zu können, bis irgendwo da draußen mal wieder ein irrer Tyrann ausrastet.

Den Holocaust sieht Mongin von einer religiös überhöhten Sprache derart zum schwarzen Loch der Weltgeschichte dämonisiert, dass er negationistisch den Glauben an Politik überhaupt nimmt. Der Autor spricht von einer »Sakralisierung des Guten« und einer »Sakralisierung des Bösen« - dem Pendant zu seiner Banalisierung.

Wie zwischen diesen beiden Diskursen das Politische zerrieben worden ist und schließlich die Gewalt als einzige Option übrig blieb, demonstrierten die Entstehungsgeschichte und der Verlauf des Jugoslawien-Krieges neun Jahre nach der Veröffentlichung des Buches. Politik im Zeitalter ihrer Selbstabschaffung braucht »Katastrophen«, seien sie nun humanitärer oder, wie gegenwärtig die Kampfhunde, nur animalischer Art, um die immensen Trägheitskräfte zu überwinden.

»Es gibt keinen anderen historischen Rhythmus mehr als den der Dringlichkeit«, schreibt Mongin. Das Nichts ist dialektisch ans Meta-Ereignis gebunden. Die These »Leere« und die Antithese »der große Kick« entfalten auch auf individueller Ebene Wirkmächtigkeit. Mit den stillgestellten Zeitläuften nach dem Ende der Geschichte mag sich das Leben, das gelebt werden will, nicht abfinden. Es wagt aber auch nicht, das tiefe Tal des Nichts zu durchschreiten, um es hinter sich zu lassen. So treibt der Bewegungsapparat entweder dem Pol »(Auto-)Destruktion« zu oder aber er stellt den Betrieb ein und nähert sich langsam dem Pol »Erstarrung«.

Den tiefsten Blick ins Herz der Finsternis von Fight Clubbern, American oder German Psychos, aber auch in das der zu Salzsäulen erstarrten Lebewesen hat Jörg-Uwe Albig in »Velo« geworfen. Lolli, die weibliche Hauptfigur dieses »anti-existenzialistischen Romans« (Holert) beschließt, »Ja« zum vermeintlichen Nichts zu sagen und Pflanze zu werden. Am Ende sitzt sie in »triumphaler Apathie« auf der Bank eines Berliner U-Bahnhofs und geht in einem »rite de passage« in den vegetativen Zustand über.

Enzberg hingegen - der Name der männlichen Hauptfigur stellt einen deutlichen Verweis auf Hans Magnus Enzensberger dar, dessen »Aussichten auf den Bürgerkrieg« den Horizont seiner Welt-Wahrnehmung abstecken - ist als Fahrradkurier ständig in Bewegung. Nur so erlangt die Stadt für ihn die Unschärfe, die sie erträglich macht. Durch die scharfen Konturen seines Glatzkopfes hebt Enzberg sich von ihr ab. Seiner Ansicht nach ist die Welt eine Frau, »der man die kalte Schulter zeigen muss, damit sie einen liebt«.

Er sehnt sich den Urknall herbei, der das Chaos aus »Amok, Leere, Wahnsinn« wieder in ein Universum verwandelt. Hart auch gegen sich selbst und mit asketischer Freude Mineralwasser trinkend, bereitet er sich körperlich und geistig auf den lang erwarteten Ernstfall vor, von dem ihm die Horror-Meldungen aus dem »Vermischtes»-Ressort und die TV-Kriegsbilder aus fernen Ländern schon einen Vorschein liefern. Er landet schließlich im jugoslawischen Bürgerkrieg, stirbt jedoch im Vorfeld der Schlachtfelder, liquidiert von einer Söldnertruppe, bei der er anheuern wollte.

Ein anderes Buch erzählt eine ähnliche Geschichte: Joseph Fischers »Mein langer Lauf zu mir selbst«. Derselbe Bewegungsdrang, dieselbe Wonne, sich im Nirvana der Immanenz zu verlieren: »Jetzt, da er das Geheimnis kennt, spürt er im Rhythmus den Zauber der Monotonie«, dasselbe Lieblingsgetränk: Mineralwasser, dasselbe erbarmungslose Körper-Regime: »Gib niemals auf!«, »Eine einmal erreichte Entfernung wird nie wieder unterschritten!»; »2:23:13 Std.«, vermerkt sein Tagebuch, »maximale Härte«. Wer sich so zurichtet, kann als Marathon-Läufer eigentlich nur noch die Botschaft von der beginnenden Schlacht übermitteln.

Aber mit welcher Art von Bewegung kommt man von der Stelle, ohne zum Amokläufer, Krieger oder Selbstmörder zu werden? Mongin zufolge dürfte sie nicht vor der Leere fliehen, sondern durch die Wüste führen, die den Anderen sucht und sich wieder mit der Geschichte synchronisiert. Nanni Morettis Film »Palombella Rossa« (»Wasserball und Kommunismus«) etwa erfüllt für ihn die Kriterien dieser Bewegungslehre.

Der italienische Regisseur spielt darin einen linken Wasserballer, den ein Gedächtnisverlust als Folge eines Autounfalls auf den Nullpunkt seiner politischen Biographie zurückwirft. Im Verlaufe eines entscheidenden Wasserball-Spiels bearbeitet er die Brocken aus seiner Vergangenheit, die ihm ungeordnet zu Bewusstsein kommen, neu und schafft sich so eine zweite Identität; eine, die um die toten Punkte in der Geschichte der Linken weiß.

Während der Held aus dem Film »Le grand bleu« vor der scheinbar sinnentleerten Welt in die unendlichen Tiefen des Meeres abtaucht - das Paradebeispiel des Buches für eine »falsche Bewegung« -, begegnet Moretti dem Element Wasser auf eine ganz andere Weise. Trotz widriger Umstände versucht er, den Kopf über Wasser zu halten, seine Körperbewegungen mit denen seiner Mitspieler abzustimmen, Aktion und Reflexion zu verbinden und aus seinen Schwächen Stärken zu machen.

Der Film-Titel »Palombella Rossa« verweist auf ein Täuschungsmanöver im Wasserball-Spiel, bei dem vornehmlich körperlich schwächere Spieler einen harten Wurf andeuten, den Torwart damit zu einem Emporschnellen veranlassen, dann aber seine Abwärtsbewegung abwarten, um den Ball sanft über ihn hinwegzuheben.

Die Filme John Cassavetes' gelten Mongin als eine beharrliche Anstrengung, »die Leere zu humanisieren«. Die Figuren sind permanent in Bewegung, von den schwarzen Löchern Wahnsinn, Tod oder Alkohol aus ihrer kleinen Welt geworfen. Ein wenig Ruhe finden sie nur in einem Reich zwischen Mikro- und Makrokosmos, in der Gesellschaft ihrer Freunde, die sie davor bewahrt, an sich selbst irre zu werden.

Und was ist mit dem Mann, der die politische Wüste derzeit wie kein anderer belebt: Christoph Schlingensief? Allem Anschein zum Trotz bewegt er sich eigentlich gar nicht. Er lässt sich vielmehr automatisch von monströsen Negativpolen wie Deutschland, Haider, dem Elend auf den Straßen oder dem Krieg anziehen und muss sich so gar keine Gedanken über Antriebsformen, politische Leerstellen und die einzuschlagende Richtung machen.