Radio gegen Fernsehen

Are over now

Nur im Fernsehen ist Fußball die Synthese aus Tiefe und Geselligkeit.

Seit Samstag hat das Leben wieder einen Sinn: Fußball glotzen. Es mag sich gehören, in alternativen, linken, antifaschistischen und sonst irgendwie politisch korrekten und revolutionär relevanten Zirkeln den medialen Zirkus um das Fernsehereignis Fußball zu verdammen, zumindest aber verächtlich gähnend zu ignorieren. Leider sind die Damen und Herren Revolutionäre in dieser Sache schief gewickelt, sie begreifen nicht die subversive Dimension des samstäglichen Fernseh-Fußi-Abends als letztem verlässlichen und tröstlichen Moment in einer aus allen Fugen der Vernunft quellenden, stumpf- und blödsinnig gewordenen Welt.

Gut, ich begreife das auch nicht, aber ich weiß, dass es so ist, jedenfalls in meiner Welt und der meiner Samstagabend-Fernseh-Fußi-Genossen. Freilich diskutierten auch wir damals, als RTL mit dem unvergesslichen Tapsbär Uli Potowski der seligen »Sportschau« den Garaus machte, die große Gesinnungsfrage: Darf man nach dem Tod der alten Sportschau noch Bundesligafußball in der Glotze glotzen?

Oder muss man zurück zu den seligen Gründerzeiten der Bundesliga, als Rudi Michel, während der obligatorischen samstäglichen Autowäsche, aus Großvaters Kofferradio vom Betzenberg herunter nach Jochen Hageleit in Duisburg plärrte, weil er von dort angeblich einen Torschrei des Publikums vernommen hatte?

Doch schon zu Potowskis Zeiten hatte sich die nostalgische Fraktion geschlagen zu geben. Kleinlaut mussten die Rundfunkromantiker eingestehen, dass längst kein Mensch mehr samstagsnachmittags auf dem Bürgersteig sein Auto wusch und dass die Kofferradioantennen in den Autowaschanlagen versagten. Und außer der Autowäsche fielen ihnen kaum triftige Gründe dafür ein, Fußball im Radio zu hören, wo man ihn doch auch im Fernsehen gucken konnte.

Die Vorteile des Fernseh-Fußball-Guckens haben schnell die letzten Zweifler in unserer Gruppe überzeugt. Der größte Vorteil: Man kann den sabbelnden Reportern einfach den Saft abdrehen und erfährt trotzdem alles Wichtige über die Spiele. Auch das soziale Argument sollten wir nicht unterschätzen: Fußball vorm Fernseher ist die letzte Bastion der Geselligkeit inmitten eines Gewimmels militant hedonistischer Singles und solipsistischer Web-Autisten.

So sitzt man mit Freunden am frühen Samstagabend zusammen, plaudert über die Spielerpolitik des Heimvereins, Gott, die geistige Situation der Zeit und die Welt, spottet über Nachbarn, die Regierung und den DFB, erzählt sich die neuesten Geschichten aus Betrieb, Partei, Beziehung und antifaschistischem Widerstand, denn man hat alle Zeit der Welt, um in der Sprache der Fußballreporterbagage zu reden.

Derweil flimmern endlose Werbespots für premiere, Autos, Handys oder Bier mit sämtlichen ehemaligen A- und B-Nationalspielern über den Schirm, anschließend endlose Interviews mit sämtlichen aktuellen A-, B- und C-Nationalspielern, endlose Super-Qs und Superslowmos von Remplern und ausspeienden U-21-Reservenationalspielern aus 22 verschiedenen Kameraperspektiven. Während der insgesamt 2,5 Minuten, in denen Szenen aus Fußballspielen zu sehen sind, schaut man gemeinsam entspannt zu und kommentiert anschließend die Entscheidung des Schiedsrichters, die Ballbehandlung des Lieblingsafrikaners oder die Frisur des Torwarts.

Neunmalkluge werden jetzt die Stimme erheben und sagen: Aber es gibt doch jetzt Bundesliga bei Premiere World ganz ohne Werbung! Wo bleibt denn da das kommunikative Element? Ach was, antworten wir, das ist ja noch besser, noch geselliger. Ton weg und dann jede einzelne Szene durchdiskutiert, das Fernsehzimmer des Samstagabend-Fußballguckers wird zum zeitgenössischen Pendant des literarischen Salons des 19. Jahrhunderts.

Wir sind dabei, wir sehen die Welt mit anderen Augen. Dank ungefähr 238 Kameras pro Stadion sehen wir Dinge, von denen bislang der Mensch nicht mal zu träumen fürchtete. Wir sehen Christoph Daums Augäpfel in seinen Augenhöhlen herumirren wie neurotische Frettchen im Hamsterkäfig, wir sehen Frank Pagelsdorfs Schweißperlen über seine Mitesser an der Nase rinnen, während er mit Hilfe eines durch das Drücken der Zunge an den Gaumen erzeugten Vakuums den Rest eines Würstchenzipfels aus einem Backenzahn schlorkt. Und darüber reden wir dann, während uns der Hausherr Würstchen bringt.

Kann das Radio auch nur annähernd eine derartig vollendete Synthese aus aufregender Tiefe und harmonischer Geselligkeit bieten? Ja? Unsinn.