Deutschland, einig Antifa

Das neue deutsche Wir

So soll sie aussehen, die Neubestimmung der Aufgaben von Staat und Gesellschaft: Gegen die bedrohlichen Fluten jeglicher Couleur helfen nur Hinsehen und Gesicht zeigen.

Die Metapher der »Flut« ist vielseitig einsetzbar. Heute sind jene zur »Flut« geworden, die noch zu Beginn der neunziger Jahre die faktische Abschaffung des Asylrechtes herbeibrandschatzten. Eine »braune Flut« bedroht Deutschland, meint zumindest Nordrhein-Westfalens Innenminster Fritz Behrens. »Es geht wirklich um eine nationale Sache«, assistieren die Autoren des Spiegel. Wieder einmal müssen Dämme errichtet werden. Gerade liberale Zeitungen berichten täglich stolz über die Verhaftungen von Skinheads: in Bad Berka 100, in Rostock 36, in Bochum 16, in Crangen zehn, im Kreis Tutzingen sechs usw. Der Kanzler gibt sich »beinhart»: Jetzt seien »Macher gefragt, nicht Bedenkenträger«. In Ermangelung einer Nationalgarde denkt Otto Schily über den Einsatz des Bundesgrenzschutzes in »gefährdeten Regionen« nach.

Wenn es um Nazis geht, ist alles erlaubt. In der Zivilgesellschaft übertrumpft man sich plötzlich bei der Forderung von immer härteren und noch schnelleren Strafen, von Hausarresten, neuen Radikalenerlassen, Parteienverboten. In Brandenburg sollen öffentliche Plätze endlich mit Videokameras überwacht werden. Die Forderungen gehen so weit, dass sogar der Law-and-Order-Minister Schily gegenüber wild gewordenen Spiegel-Interviewern zum Bremser wird. »Der Staat«, sagt er, »kann weder ein Zuchtverbot für Rechtsradikale verhängen noch besonders aggressive Exemplare einschläfern lassen.«

Tatsächlich war es jedoch der Staat, der die Zivilgesellschaft aktiviert hat. Ganz im Sinne jener »Neubestimmung der Aufgaben von Staat und Gesellschaft«, die Gerhard Schröder im März in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung verkündete. Seit geraumer Zeit werden die Bürger von einem staatlich-medialen Dramatisierungsverband ununterbrochen gegen neue Bedrohungen mobilisiert - gegen aggressive Serben, zuviel Einwanderung, Killer-Kids, @-Bomben, zu wenig Einwanderung, Kampfhunde oder eben gegen Nazis. Dabei sollen die Bürger selbst etwas tun - in erster Linie »hinsehen«. Man müsse »das Wegschauen abschaffen«, meint Fritz Behrens. Es »ist wichtig, dass keiner wegsieht«, unterstreicht der Bundesinnenminister.

Während der Bürger sich in einen visuellen Kontrollapparat verwandeln soll, hilft er gleichzeitig mit, dass das Wir ein Gesicht bekommt. »Wir haben uns in jeder Krise sehr großzügig verhalten und für Flüchtlinge wie Asylbewerber sehr viel Geld aufgebracht. Das steht uns gut zu Gesicht«, sagte Schily im Juli der Zeit. »Gesicht zeigen« sollen jetzt auch die Prominenten unter den Staatsbürgern in einem »Bündnis gegen rechts«, das Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland initiiert hat. Zugesagt haben Veronica Ferres, Marius Müller-Westernhagen und Günther Jauch. Unter dem Titel »Stoppt den Hass!« hatten Prominente im Kölner Express schon zuvor reichlich Gesicht gezeigt. »Wir wollen nicht zulassen, dass Ausländer hier in Angst und Schrecken leben. Wir sehen nicht zu. (...) Null Toleranz gegen rechten Terror. Nie mehr wegsehen, nie wieder schweigen.«

»Wir dürfen nicht wegsehen«, hieß auch Rudolph Scharpings Kosovo-Tagebuch. Wo ein Holocaust verhindert werden sollte, wurde im letzten Jahr vor allem ein neues Regime im Umgang mit Flüchtlingen erprobt. Wie vor allem Helmut Dietrich detailliert nachgewiesen hat, wurde das Hinschauen auf europäischer Seite vor allem durch Sicherheitsinteressen motiviert: Die Regierungen fürchteten neue Fluten. Dabei wurden in Mazedonien Großlager errichtet und Flüchtlinge unter Umgehung der Genfer Konvention zur temporary protection in Kontingenten nach Westeuropa gebracht. Nach der Katastrophe von Dover bezeichnete der britische Innenminister Jack Straw den Kosovo in Bezug auf zukünftige Flüchtlingspolitik als »Präzedenzfall«. Straw stellte sich das so vor: Flüchtlinge aus einem als Verfolgerstaat anerkannten Land sollen ihre Absicht bereits vor der Abreise bekannt geben. So könnten sie wie die Kosovo-Albaner bereits vor der Einreise als Flüchtlinge anerkannt werden. Die EU-Regierungen wollen totale Transparenz - sie wollen sich nicht nur ihre Arbeitsmigranten, sondern auch ihre Flüchtlinge aussuchen können. Nur Verwaltungsorgane sollen sich als Schlepper betätigen dürfen.

Seit Schröder nach einem kleinen Rundgang auf der Cebit seine Green-Card-Pläne eröffnete, ist der nützliche Ausländer - ob Arbeiter oder Manager - hierzulande gefragt wie noch nie. »Deutschland«, stellte Bundespräsident Johannes Rau in seiner gefeierten »Berliner Rede« im Mai apodiktisch fest, »gehört heute zu den buntesten und offensten Ländern der Welt.« Aber diese Ausländer, fügte er hinzu, seien leider trotzdem noch ein Problem mit ihrer fremden Kultur, ihrem Fundamentalismus, ihren Ghettos, ihrer Kriminalität und ihrer Sprache. Dennoch heißen wir sie heute willkommen, so Rau. »Haben wir nicht Gründe - nach 50 Jahren erfolgreicher Friedens- und Demokratiegeschichte -, für unsere Gesellschaft, für ihre Kultur und ihre Lebensformen, vielleicht auch für ihre Symbole zu werben? (...) Wenn uns das gelingt, dann können wir erwarten, dass aus Immigranten Bürgerinnen und Bürger werden, die hier nicht nur zu Hause sind, sondern sich auch heimisch fühlen.«

Ebenso wie 40 Jahre lang erwartet wurde, dass Ausländer nach getaner Arbeit wieder in ihre Heimat verschwinden, wird nun erwartet, dass sie sich »heimisch fühlen«. Deshalb sollte man als Ausländer nicht nur nützlich sein, sondern auch integriert. In diesem Sinne werden bei der Einbürgerung Sprachkenntnisse geprüft. In Bayern denkt man gar über Strafen für schlechtes Deutsch nach.

Ein ganz neues Wir ist unterwegs. In einer Broschüre zur Ausstellung »Heimatkunst« im Berliner Haus der Kulturen der Welt fragt sich Kurator Johannes Odenthal: »Wie kann sich Deutschland künstlerisch in den nächsten Jahrzehnten international darstellen?« Nicht mehr statisch jedenfalls, meint er, sondern durch Interkulturalität, durch Begegnungen, Zusammenstöße oder Brüche. Insofern müssen die heimischen Migranten nun zur kulturellen Selbstidentifikation Deutschlands beitragen: »Es geht, wie in Großbritannien und den Niederlanden, um die Sichtbarkeit von Migranten-Kultur, um die öffentliche Darstellung komplexer kultureller Identität in Europa.« Nach dieser Einführung folgen in der Broschüre dann aufmunternde Aufrufe des Staatsministers für Kultur, der Ausländerbeauftragten des Bundes und Berlins sowie eines bekannten autochthonen Wissenschaftlers.

Alles wie gehabt, nur anders herum. Noch bevor sich Migranten in Deutschland ästhetische Mittel im Kampf um Emanzipation und Repräsentation aneignen können, werden sie von deutschen Institutionen zur Sichtbarkeit gezwungen - sie, die jahrzehntelang politisch und kulturell unsichtbar gemacht wurden. Sollte allerdings nicht flugs ein deutscher Hanif Kureishi auftauchen, könnten sich diese neuen Erwartungen schnell in Enttäuschung und Missvergnügen verwandeln.

In der neuen Kampagnenkultur geht es weder um Ursachenbekämpfung noch um durchgreifende Veränderungen, sondern um die permanente Anrufung eines Wir mittels einer gespenstischen Dauermobilisierung. Bereits morgen könnte es im Kampf um das »Ansehen Deutschlands« (Joseph Fischer) - also um die schönste Repräsentation eines neuen deutschen Wir - wieder opportun erscheinen, rassistische Anschläge wie bisher zu verschweigen. Schon morgen könnten wieder kriminelle Ausländer die Nazis als Generalbedrohung ersetzen.

Bis dahin allerdings werden die Migranten andere Formen des Terrors ertragen müssen - durch patronisierende Zivilcourage. »Wenn ich eine Ausländerin oder einen Ausländer in der S-Bahn sehe«, versprach die Grünen-Vorsitzende Renate Künast der taz, »setze ich mich genau dorthin und zeige damit: Sie sind nicht allein.«