»X-Men - Der Film«

Die pubertäre Ursituation

Übernatürliche Kräfte im Körper, unverstanden von der Umwelt, bedroht durch die Bösen: »X-Men« von Bryan Singer taugt trotzdem nichts.

Eins kann man bei »X-Men« lernen: Die Pubertät ist schlimm. Als Rouge ihren ersten Freund küsst, fällt er für zwei Wochen ins Koma. Mit einer Berührung kann sie Erinnerungen und Fähigkeiten jedes Menschen zu den ihren machen. Dauert das zu lange, droht schlimmstenfalls der Tod. Rouge ist Teil der nächsten menschlichen Evolutionsstufe - ein Mutant. Und das Leben der Mutanten in der nicht allzu fernen Zukunft des neuen Films von Bryan Singer ist die Hölle. Sie leiden unter ihren telepathischen, kinetischen, in jedem Fall ungewöhnlichen Fähigkeiten, werden von den nicht mutierten Menschen verachtet und von diskriminierenden Gesetzen bedroht. Eine Grundkonstellation, mit der eigentlich jeder einen Film hinbekommt: Eine Gruppe rettet die Menschheit, obwohl sie von dieser verachtet wird. Zwei Sorten von X-Men gibt es: Die einen glauben an und kämpfen für eine friedliche Koexistenz mit dem unmutierten Rest der Menschheit. Die anderen nicht und wollen folglich die Welt beherrschen.

Seit 27 Jahren erscheint die Comic-Serie im Marvel-Verlag. Es gibt nur zwei Serien, die ähnlich erfolgreich sind und ebenfalls verfilmt wurden: »Superman« und »Batman«. Doch die X-Men kommen nicht aus den Dreißigern, sie sind Kinder der Sechziger. Die Helden sind keine Wesen von einem anderen Planeten oder snobistische Multimillionäre. Die Handlung spielt an keinem fiktiven Ort wie Metropolis oder Gotham City. Pubertierende Normalteenies sitzen in ihren Vorortelternhäusern und entdecken ihre übernatürlichen Fähigkeiten. Die Ursituation Pubertierender. Natürlich versteht sie keiner, und dieses Nichtverstehen übersetzt sich in ein globales Bedrohungsszenario. Regierung, Geheimdienste, Justiz - alle sind auf einmal hinter ihnen her. Und als popkulturelles Produkt der frühen Sechziger wird diese Bedrohung in »X-Men« ins Bürgerrechtlich-Politische transponiert. Schließlich waren die realen McCarthy-Prozesse noch recht lebendige Erinnerungen, und die Kämpfe um Gleichberechtigung fanden im Herbst 1962 ein Symbol, als die US-Nationalgarde unter Bundesbefehl an der Universität von Mississippi einmarschieren musste, damit ein schwarzer Student sich einschreiben konnte. Wer in einer solchen Welt aus der Sicherheit des elterlichen Hauses geworfen wird und nicht recht weiß, wohin mit seiner übernatürlichen Kraft, hat zwei Möglichkeiten. Die Welt retten oder sie bestrafen: So gibt es die guten und die bösen X-Men. Und da sich an den pubertären Konflikten und der generellen Ungerechtigkeit der Verhältnisse seit den frühen Sechzigern wenig geändert hat, existieren die »X-Men« bis heute.

Doch auf diese Grundkonflikte gibt Singer wenig. Nur zwei Charaktere erhalten überhaupt einen persönlichen Hintergrund. In wenigen Einstellungen wird der erste Kuss Rouges erzählt. Einige Minuten später gerät sie an Professor Xavier, den Anführer der guten X-Men. Trotz des relativ ausführlichen Hintergrunds ist ihr Charakter gänzlich eindimensional geraten. Im Comic kämpfte sie eine Zeitlang an der Seite der bösen X-Men, was verständlich ist, wenn man bedenkt, dass ihr Vater sie nach der Katastrophe beim ersten Kuss enterbte und verstieß. Diese innere Zerrissenheit wird im Comic auch äußerlich sichtbar. Rouge sieht verdammt sexy aus, fürchtet aber jede Berührung. In Singers Filmversion ist Rouge von vornherein das gute Mädchen. Und natürlich trägt sie einen züchtigen, weiten, schwarzen Umhang.

Im Fall Magnetos, des bösen Gegenspielers von Xaviers X-Men, ist diese Form des Hintergrunds dann völlig missraten. Seine Vergangenheit wird mit einer Szene beschrieben: 1944 wird er im KZ von seinen Eltern getrennt, er schreit, weint, verbiegt mit seinen übernatürlichen Kräften das Metalltor - doch schon sind seine Eltern dahinter verschwunden, auf dem Weg in den Vernichtungstrakt. Der Comic beschreibt die Entwicklung Magnetos zum Menschenfeind anders. Er entdeckt seine Kräfte nicht im KZ, sondern als seine Tochter in einem Haus verbrennt und die Anwohner ihr nicht helfen. Und lange Zeit glaubt er an ein friedliches Zusammenleben mit den Menschen. Singers Version dagegen lautet: Juden, die das KZ überlebt haben, würden am liebsten den Rest der Menschheit hineinstecken.

Im Gegensatz zu »Batman« und »Superman« schafft die Verfilmung auch keine eigene visuelle Interpretation der Vorlage. Weder die Potenzierung der gotischen Düsternis wie bei »Batman« noch einen ironisch-übertriebenen Realismus ˆ la »Superman«. Der einzige auffällige Akzent: Statt der extrem engen, bunten, knappen Kostüme der Vorlage tragen die Charaktere schwarzes Leder, das matt schimmert, als wäre es direkt vom »Matrix»-Set geklaut. Auch den Effekten fehlt der einheitliche Stil. Trotzdem sind sie mitunter atemberaubend - wenn sich etwa ein Mutant an der Zunge durch die Luft schwingt oder die Waffen einiger Hundert Polizisten sich selbstständig machen und gegen ihre ehemaligen Besitzer richten. Da stört es auch nicht sehr, dass fast jeder Szene anzumerken ist, dass das Publikum zum einen in den zweiten Teil, zum anderen in den Comicshop gelockt werden soll.

»X-Men - Der Film«, USA 2000, R: Bryan Singer, D: Patrick Stewart, Ian McKellen, Famke Janssen. Start: 21. August