Moshe Zuckermann, israelischer Soziologe

»Nichts ist abgegolten, nichts normalisiert«

Kein Tag vergeht, an dem in Politik und Medien nicht vorm Rechtsextremismus in Deutschland gewarnt wird. Von der Lokalzeitung bis zum Bundeskanzler sind plötzlich alle Antifaschisten. Nur über Gründe und Auswirkungen wird noch gestritten: Soll man die NPD verbieten? Müssen mehr Lehrstellen geschaffen werden? Braucht die Polizei neue Befugnisse? Hilft psychologische Betreuung? Moshe Zuckermann ist Professor für Soziologie, Geschichte und Politologie an der Universität in Tel Aviv und leitet das Historische Institut für Deutsche Geschichte.

Da Sie die letzten zwei Monate in Deutschland verbracht haben, konnten Sie die rechtsextremen Angriffe und Anschläge der vergangenen Wochen ebenso verfolgen wie die Formierung einer Staats-Antifa. Was ist ihnen dabei aufgefallen?

Rechtsextremismus ist kein spezifisch deutsches Problem. Das kann man daran sehen, dass Österreich es mit dem Rechtsextremisten Haider zu tun hat, die Schweiz mit einem Blocher, Le Pen treibt seit längerem sein Unwesen in Frankreich, es gibt einen großen Aufschwung des Rechtsextremismus in Schweden. In Deutschland ist es aber deswegen ein Problem, weil es hier die extremste Form des Rechtsradikalismus in diesem Jahrhundert gegeben hat.

Ist das für Sie das einzige Spezifikum an der deutschen Situation?

Seit der so genannten deutschen Wiedervereinigung ist der Osten des Landes so abgehalftert worden, dass ganze Lebenswelten abgeschrieben wurden, nicht nur mental, sondern auch real. Die Vereinnahmung des Ostens durch den Westen machte sich nicht nur im Kapitalismus fest, sondern auch in der sozial-psychologischen Ausrichtung auf den Westen.

Seit Jahren gibt es fast täglich rechtsextreme Übergriffe, bei denen mittlerweile mehr als 100 Menschen gestorben sind. Rassismus ist Alltag in Deutschland und somit ein politisches Phänomen. Es handelt sich doch nicht nur um ein soziales Problem der ökonomisch Benachteiligten.

Leute werden nicht als Rechtsextreme geboren, und sie werden auch nicht dazu, indem sie eines Tages eine ideologische Entscheidung treffen. Rechtsradikalismus ist immer schon ein Resultat sozialer Verhältnisse gewesen und die gilt es zu analysieren.

Aber doch nicht, indem man den staatlichen und den Alltagsrassismus in Deutschland ausblendet.

Wichtig ist, wie die jeweilige Regierung mit dem Rechtsradikalismus umgeht. Entstanden ist er historisch, ökonomisch und sozial. Während der Kohl-Ära ist man immer nur gegen die radikale Linke vorgegangen, nie gegen Rechts. Der Umgang der rot-grünen Koalition mit der extremen Rechten hat damit zu tun, dass das Thema auf einmal in einem gesamt-europäischen Kontext aufgeworfen wurde. Durch den europäischen Umgang mit Österreich hat Deutschland einen Wink bekommen, was es bedeuten könnte, sanktioniert zu werden.

Erklärt das den staatlichen Antifaschismus dieser Tage?

Deutschland ist sehr mit seinem Ansehen beschäftigt: Holocaust-Mahnmal, Schlussstrichdebatte, die Wehrmachtsausstellung, all diese Sachen verweisen darauf, dass noch nichts abgegolten und normalisiert ist. Während der letzte Bundeskanzler für die späte Geburt dankbar war, will der aktuelle ein Mahnmal haben, wo die Deutschen gerne hingehen, um zum Ausdruck zu bringen, dass man mittlerweile normal geworden ist. In dem Moment, wo auch ehemalige Linke die Vergangenheit normalisiert haben wollen, gerät man in die Aporie, dass einerseits eine Realität sanktioniert wird, die Rechtsradikalismus fördert, und auf der anderen Seite formuliert wird, etwas wieder gut gemacht zu haben, in dem man einfach nur links-liberal ist. Das alles hat damit zu tun, dass die 68er jetzt ein Teil der politischen Klasse und damit zu Verantwortungsträgern geworden sind. Da kann man mit so einer Walser-Debatte gar nichts mehr anfangen. Im Gegenteil, man verwendet die alten Parolen von »Nie wieder Krieg! Nie wieder Auschwitz!«, um deutsches Militär in Kampfhandlungen einzusetzen.

Spielt nicht vor allem das Ansehen Deutschlands im Ausland eine Rolle? Immer geht es bei Schröder um den Standort Deutschland. Dazu passt unkontrollierter Rechtsextremismus nicht.

Die politische Klasse in Berlin weiß genau, dass heute auf der Welt ohne Deutschland nichts läuft. Deutschland ist zur ökonomischen Weltmacht avanciert und wird überall hofiert. Niemand kann es sich leisten, etwas gegen Deutschland zu tun. Deutschlands Ansehen richtet sich heute nach der Frage, ob man gut oder nicht gut duftet. Spätestens, wenn man an die Stelle kommt, die nie duftet, sondern immer stinkt - nämlich die, wo das Geld ist - wird klar, dass es nicht um die Frage des Ansehens geht, sondern um die der Interessen ...

... die wiederum eng mit dem Ansehen verküpft sind, da jeder rechtsextreme Übergriff, der im Ausland bekannt wird, dem Standort Deutschland schaden könnte.

Da wird eine Entsorgungspolitik betrieben, ohne die Gründe für den Rechtsradikalismus in Deutschland aufzuarbeiten. Auf dieser Ebene spielt sich in Deutschland derzeit gar nichts ab, man versucht allein, auf der politischen Ebene herumzufuhrwerken. Wenn ich ein Primat setzen muss, ist für mich immer das Sozio-Ökonomische die Ursache.

Aber glauben Sie ernsthaft, dass Umverteilungen oder ökonomische Gerechtigkeit den Rassismus hier abschaffen würden?

Eine Gesellschaft, in der ökonomische Bedürfnisse gestillt werden, eine Gesellschaft, in der der Umgang miteinander nicht mehr von Wettbewerb und Ausgrenzung geprägt ist, wäre im Hinblick auf Vorurteile, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit besser dran. Rassismus ist keine genetische Veranlagung, sondern ein geschichtlich und sozial gewachsenes Phänomen. Es ist kein Zufall, dass Rassismus erst in der Moderne auftritt, die eine kapitalistische Wettbewerbsgesellschaft gewesen ist. Das Fremde konnte aus der Logik des Nationalstaates politisch-staatlich definiert werden.

Wenn nur noch zur Gesellschaft gehören soll, wer sich als tüchtig und leistungsfähig bewiesen hat, entsteht so etwas wie Wohlstandsrassismus. Die zahlreichen Übergriffe auf Nicht-Deutsche, egal ob sie arm sind oder reich, ob sie arbeiten oder nicht, erklärt das nicht. Geht es nicht auch um eine Dominanzkultur, die Rassismus hervorbringt?

Da sind die subversiven Kulturen gefragt. Wenn wir nur die Werte wandeln, ohne auf die Basis zu schauen, dann haben wir nur Ideologie - die Basis ist noch immer derselbe Mist. Es muss gleichzeitig das Soziale, das Politische, das Ökonomische und das Kulturelle angegangen werden. Interessant ist, dass in dem Moment, in dem der Sozialstaat abgebaut wird, die Politik sich auf den Rechtsextremismus besinnt. Es ist leicht, da einen Kausalzusammenhang zu sehen.

Nach dem Fall der Berliner Mauer hat der damalige israelische Ministerpräsident Yitzhak Shamir vor dem Vierten Reich gewarnt. Letzte Woche hieß es in einer Studie der Freien Universität, dass zwölf Prozent der Berliner und 21 Prozent der Brandenburger offen rechtsextremes Gedankengut vertreten. Hat Shamir Recht gehabt?

Shamir war ein mittelmäßiger Politiker mit anachronistischen Anschauungen. Es geht nicht um das Vierte Reich und es geht nicht um das Wiederaufleben des Dritten Reiches. Es ist historisch nicht mehr möglich, dass Deutschland zum Nationalsozialismus zurückkehrt. Aber es ist so, dass wir uns über Deutschland hinaus überlegen müssen, was es heißt, dass die Globalisierung, sprich: die Kapitalisierung der Welt eine mehr oder weniger positiv aufgenommene Entwicklung ist, bei der die dritte und die vierte Welt krepiert. Deswegen geht es nicht um das Vierte Reich, sondern um die Globalisierung. Es ist also kein deutsches Problem, sondern ein Problem des Kapitalismus in der Welt.