»Dancer in the Dark«

Singen im Dunklen

In der Dogma-Welt des Lars von Trier ist reichlich Platz zum Tanzen.

Die Fabrikarbeiterin aus der Tschechoslowakei, allein stehend, mit Kind in den USA der Fünfziger lebend, erst fast, dann ganz erblindet - gespielt von Björk, neben Cathérine Deneuve: So etwas nennt man einen Bogen spannen, zumal Mutterliebe, ein Tötungsverlangen, Geld und Not dazukommen. Und als Ausweg die Musik. »Dancer in the Dark« ist ein Coup, der den zerfetzten Dogma-Realismus mit den Genremitteln des Musicals ein weiteres Mal bricht und wieder zusammensetzt.

»Dancer in the Dark« gehört zu jenen Musicals, denen Eskapismus das Geschäftsmodell liefert. Immer dann, wenn es hart kommt, setzt die Musik ein, und Björk tanzt, singt ihre eigenen Songs und vergisst so für einen Moment die Not, egal, ob auf der Arbeit, nach einem Mord oder in der Todeszelle. Sound und Rhythmus der Umgebung verdichten sich dann zu einer Extraportion Spaß, Glück und Poesie. Das scheint zunächst ein Widerspruch zur Verzichtsästhetik des Regisseurs zu sein, zumal das Musical im Kino als nicht mehr gebräuchliche Unterhaltungsform sogar ein doppelter Luxus ist.

Den Eskapismus verkörpert in »Dancer« die Figur der Selma, die erklärt: »In a musical, nothing dreadful ever happens.« Das ist von ihr so ernst gemeint, wie es im Kontext ironisch wirkt. Ernst, weil es zu den Glaubenssätzen dieser Figur gehört; ironisch, weil das Drehbuch jede Hoffnung dementiert, mit der sich Selma immer wieder aus ihrer Tragik aufzurichten versucht. Darin steckt eine Härte, die fast an Zynismus grenzt; ein Humor, der seine Bestätigung daraus zieht, die Gefühle zu bedienen, und trotzdem allen Ernst dafür aufbringt, den Zuschauer einerseits in Schach zu halten und ihn andererseits aus der Reserve zu locken. Das geht bis zum letzten Moment des Unhappy End, einer unartigen Verkehrung des amerikanischen Modells, in dem Hoffnung gewöhnlich zur Expansion und einer Neuerfindung des Selbst beiträgt.

Gemessen an einer solch tragischen Weitschweifigkeit ist aber die Bedeutung, die der »Macht der Naivität« und der Einfalt von Selma zukommt, manchmal beklemmend. Als Ausbund von Güte und Freundlichkeit geht Selma völlig in der Sorge um das Wohl ihres Kindes auf. Im Grunde spielt Björk damit eine Heilige, obwohl es ihr gelingt, ihrer Figur eine kauzige Festigkeit zu geben, soweit die sprunghaften Bildmethode dies zulässt.

Wenn die achtziger Jahre dem Kino etwas angehängt haben, dann eine Vorliebe für die simplen Herzen. Was in den Coen-Filmen einen meist märchenhaften Charme hat und bei David Lynch und Oliver Stone zu Pop-Phantasmagorien wurde, stieg in »Forrest Gump« schon zu geschichtsphilosophisch zweifelhaften Höhen auf.

Es gibt auch ein aktuelles deutsches Beispiel. In seinem neuen Film »Der Krieger und die Kaiserin« weist sich Tom Tykwer erneut als Kenner der Unbedarften aus. Seine Psychiatrie-Schwester Sissi verführt das Publikum mit flachem Blick und stets ein wenig geöffnetem Mund und verweist mit wenig darstellerischem Aufwand auf ein antiquiertes Frauenbild - eine Methode, die vergleichbar ist mit dem Aufsetzen alter Kassenbrillen in der deutschen Comedy, wenn es darum geht, kleinbürgerliche Verklemmtheit anzuprangern. Mit Tykwers Sissi, so die Behauptung, soll sich aber jeder und jede identifizieren.

Dabei geht es aber um etwas, das auch in vergleichbaren US-Filmen eine Rolle spielt: die Implosion des Autorenfilms. Der Autorenfilm dieser Prägung will nämlich möglichst wenig mit persönlichen Erfahrungen zu tun haben, weil dieses Sujet womöglich im Verdacht stehen könnte, nicht universell und publikumsorientiert zu sein. Das führt dazu, dass jemand zwar ernsthaft behaupten kann, einen Film über eine Liebe zu machen, obwohl er dabei aus der Liebe ein Genre oder ein Gadget macht. Es ist, als müsse ein gewisses Kino die Intelligenz seiner Figuren opfern, um die eigenen Kunst- und Technikambitionen umso ungestörter wuchern zu lassen, was die Ergebnisse von der populären Erzählung ebenso unterscheidet wie von der persönlichen Vision.

In »Dancer in the Dark« sieht das zum Glück etwas anders aus. Die charakterliche Vereinfachung folgt hier eher dem dramaturgischen Gesichtspunkt, dass eine zu starke und nicht ganz so sympathische Persönlichkeit einem Musical schädlich werden könnte; im Übrigen konnte von Trier mit Björk ein Bollwerk gegen eine zu banale Naivität errichten. In einem Interview ließ sie durchblicken, dass es ihr nicht darauf ankam, die Vorgaben des Regisseurs - die Unbedarftheit auszuspielen - umzusetzen. Fast nebenbei gelingt es von Trier dann auch noch, das urdeutsche Palaver von den »großen Gefühlen im Kino« wahr zu machen, indem er sie tatsächlich auch ausspielen lässt.

Aber niemand erwartet vom Zuschauer die Identifikation mit Selma. Triers Nebenfiguren sind schon eher so »man selbst«, von einer dümmlichen Konsumgier geplagt, berechnend, über Leichen gehend. Das von Selma in harten Überstunden hart verdiente und für den guten Zweck gesparte Geld wird ihr vom netten Nachbarn gestohlen, der es für eine banale Warenzirkulation zu benutzen gedenkt. Naivität drückt sich in »Dancer in the Dark« eher an anderer Stelle aus. Offensichtlich hat der Film ein großes Interesse an der Darstellung von »Proletariat«, »einfachen Leuten« oder »Fabrik«, und dieser soziale Romantizismus ist dem heutigen Politikverständnis ja keineswegs unbekannt. Das alles könnte also auch recht unerfreulich sein - wären da nicht der Tanz und die Musik. Die Musiknummern besitzen einen Zauber, der das soziale Dunkel ästhetisch erhellt, so sehr, dass man sich wünscht, »Dancer in the Dark« wäre einem Film von Jacques Demi noch ähnlicher.

Noch etwas zum Dogma-Stil: Bekanntlich wurden bei Lars von Trier die unentwegt blinkernde Kamera und der Schnittrhythmus selbst zum Subjekt erhoben. Daher wirkt es so, als sei die Kamera besonders nah an den Figuren. Das macht die professionelle Schauspielerei schwierig, kommt aber Laiendarstellern wie Björk entgegen. Es sind allerdings gerade die Tanzszenen, die von diesem Stil besonders profitieren. Sie wirken eigentümlich chaotisch und aufgewühlt, beengt in den Räumen und verdoppelt durch die Hast der Kamera. Schlagartig wird klar, wie gut das Genre Musical in die Dogma-Welt passt. Das nicht selten griesgrämige Videobild sorgt dafür, dass gar nicht erst der Eindruck von gloss und Eleganz entsteht, der für das Musical der fünfziger Jahre oder jedes beliebige Musikvideo verbindlich ist.

Wenn man so will, hat Lars von Trier also das Musical neu erfunden, allerdings nicht im Sinne einer Fortsetzung der Genretradition, und mit vielen Nachahmern wird er auch nicht rechnen müssen. Er hat die Popmusik und Videokultur mit dem Drama, wie es kompakter kaum sein könnte, verschränkt. Aber entscheidend ist die betonte Hässlichkeit der Bilder, darin steckt die eigentliche Novität: die Musical-Szenen gehören zu den realistischsten des ganzen Films.

Obwohl also »Dancer in the Dark« kein »richtiges« Musical ist, ist der Film doch Musical genug, um auf feine Anspielungen auf dieses Genre Wert zu legen. Eine Rolle wurde mit Joel Grey besetzt, der seit »Cabaret« nicht mehr oft in Filmen zu sehen war. Mit Subtilität hat Lars von Trier seine Dogmen aus der Falle der Authentizität befreit.

»Dancer in the Dark«; Dänemark 2000. R: Lars von Trier. Start: 28. September