Erich Hobsbawms »Das Gesicht des 21. Jahrhunderts«

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Auch in Zukunft hat die Linke alle Hände voll zu tun. Eric Hobsbawm setzt auf die Gegner des Turbokapitalismus. Ein Historiker des 19. blickt ins 21. Jahrhundert.

Wegen seiner Studien über die bürgerliche Revolution, die Industrialisierung und den Imperialismus gilt Eric Hobsbawm als ein Historiker des 19. Jahrhunderts. Seit Erscheinen seines Werks »Zeitalter der Extreme« wird er zugleich als der Universalhistoriker des »kurzen 20. Jahrhunderts« gehandelt. Als historische Sinneinheit dauerte dieses, so Hobsbawm, vom »Ausbruch« des »Großen Krieges« im August 1914 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion und des real existierenden Sozialismus im Jahre 1989/90.

Im neuen Jahrhundert, in dem wir uns nun seit einigen Monaten befinden, lebt Hobsbawm seiner Zeitrechnung nach also bereits seit zehn Jahren, und aus den Ereignissen und Makrostrukturen des vergangenen Jahrzehnts lässt sich deshalb für die nahe Zukunft einiges ablesen. Natürlich nicht streng wissenschaftlich. Hobsbawms jüngster Veröffentlichung, »Das Gesicht des 21. Jahrhundert«, liegt ein Gespräch zu Grunde, das er Mitte 1999 mit dem italienischen Journalisten Antonio Polito führte.

In seiner Verehrung für den Historiker lässt Polito seinem Gesprächspartner viel Raum für amüsante und auch weniger amüsante Anekdoten, versucht aber auch immer wieder, ihn dazu anzustacheln, über die Zukunft zu spekulieren. Hobsbawm wiederum mag das Orakel nicht spielen und erliegt der Versuchung, konkrete Prognosen zu stellen, nur selten, und zumeist wird dann eine gewisse Ratlosigkeit konstatiert. Wie sich bestimmte Dinge entwickeln werden, steht für einen Marxisten eben nicht fest, da historische Prozesse für ihn von veränderbaren Faktoren abhängen. So entfaltet sich auf über 200 Seiten ein locker-lebendiges Gespräch, in dem immer wieder zentrale Thesen aus früheren Werken Hobsbawms diskutiert und auf ihre Tragfähigkeit für die Analyse des 21. Jahrhunderts befragt werden.

In insgesamt acht Kapiteln werden u.a. Krieg und Frieden angesichts des Jugoslawienkrieges 1999, der »Niedergang des westlichen Imperiums« und das »globale Dorf« verhandelt, oder es wird der Zustand der radikalen Linken reflektiert, die als einzige Gegnerin des Menschenbildes der Globalisierung in Frage kommt.

Hobsbawm beobachtet in der gegenwärtigen Epoche die Krisensymptome eines globalen Kapitalismus und das gleichzeitige Verschwinden des einzigen Korrektivs, also den Niedergang des bürgerlichen Staates und der bürgerlichen Gesellschaft, die bis in die letzten Jahre des vergangenen Jahrhunderts noch Reste des einst revolutionären Anspruches auf die Verwirklichung der Ideale der bürgerlichen Revolution transportieren konnten. So stehe es um »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« in diesem Jahrhundert noch schlechter als im vergangenen, da die sozialistische Bewegung weltweit zusammengebrochen ist.

Der Versuch, dem Kapitalismus ein »menschliches Antlitz« zu geben oder ihn gar abzuschaffen, ist historisch gescheitert und neue Träger für die alten Ideale sind zwar notwendiger denn je, aber leider nicht in Sicht. Wenn es aber zutreffe, so Hobsbawm, dass - entgegen der Triumphe feiernden neoliberalen Ideologie - Demokratie und Markt keineswegs eine Einheit bilden, sondern einen Widerspruch darstellen, habe die Menschheit nur eine Zukunft, wenn der krisenhafte Kapitalismus keine habe.

Umso dringender werde eine ernsthafte politische Opposition gegen den Neoliberalismus und die Deregulierungspolitik der europäischen Sozialdemokraten von Blair bis Schröder gebraucht. »Ziemlich traurig, daß nur der Papst, als einzige Person von wirklich internationalem Einfluß, klar sagt, es gäbe etwas Besseres als den Kapitalismus. Doch das ist meiner Ansicht nach kein Dauerzustand. Es werden sich wieder Tendenzen einstellen, etwas offen zu sagen und Bestehendes in Frage zu stellen.«

Die entscheidende Aufgabe, der sich das 21. Jahrhundert zu stellen habe, sei die Verteilungsgerechtigkeit. Zwar ermöglichten neue Technologien auch weiterhin steigenden Wohlstand und Produktivität, doch die Spaltung der Welt in einen reichen und einen armen Teil werde ebenfalls vertieft.

Wenig überzeugend fällt jedoch Hobsbawms Antwort auf die Probleme der entfesselten Globalität aus. Der alte sozialdemokratische Staat soll es sein, der die Frage der Verteilungsgerechtigkeit stellen, aber zugleich die Produktivität des Kapitalismus, der sich als das leistungsfähigere Wirtschaftssystem erwiesen habe, nicht antasten soll. Nur im Rahmen staatlicher Institutionen könnten die drängenden Probleme der Verteilungsgerechtigkeit sinnvoll angegangen werden.

Bei diesem Ansatz stellen sich zwei Probleme: Zum einen hat der bürgerliche Nationalstaat - und dies weiß Hobsbawm, umgeht die Problematik aber geschickt - seine Hauptaufgabe im 18. und 19. Jahrhundert, nie in der Verteilungsgerechtigkeit, sondern in der Steigerung der Produktivität gesehen.

Zum anderen zerstört die globalisierte, de-territorialisierte Ökonomie gerade die Ordnungsmacht des regulierenden Nationalstaats. Hierzu hat Hobsbawm eine Antwort parat: Er unterscheidet zwischen Globalisierung und Kosmopolitismus auf der einen, zwischen Globalisierung und Wertezerfall auf der anderen Seite. Globalisierung könne so zu einer positiven Entwicklung beitragen, nämlich zu einer ökonomischen Entwicklung, die den Menschen weltweit den gleichen Zugang zu Gütern und Dienstleistungen ermöglicht. Diese Utopie benötigt aber den Kosmopolitismus als Korrektiv. Gerade die Verschiedenheit der Menschen, Völker und Kulturen solle die Erfahrung der wirklichen Einheit der Welt ermöglichen und erhalten. Ein Problem bleibt für Hobsbawm deshalb der Verfall traditioneller, auch für die politische Linke wichtiger Werte wie Solidarität.

In solchen Passagen gleichen Hobsbawms Ausführungen Richard Sennetts Theorie des »flexiblen Menschen«, der ort- und zeitlos durch die Sphäre der Produktion huscht und seine Identität nurmehr in seiner individuellen Profitmaximierung erkennen kann. So setzt Hobsbawm, in der Tradition des marxistischen Humanismus stehend, darauf, dass die Menschen erkennen, dass hier nicht das Glück liegen kann, sondern alleine in der Hoffnung auf eine Welt mit mehr Verständigung und Solidarität.

Damit werden auch die Grenzen des Hobsbawmschen Paradigmas deutlich. Da er die Globalisierung nicht vorrangig ökonomisch definiert, greift auch seine Kritik der Auswirkungen und möglichen Gegenkonzepte zu kurz. Dies zeigt sich z.B. in seiner Einschätzung der Einwanderungspolitik des Westens, die das Gegenteil von globaler Mobilität, nämlich die Abschottung als Ziel verfolge. Er übersieht, dass die faktisch bereits existente globalistische Selektion nach Kriterien der Nützlichkeit von Migration für die Ökonomie erfolgt und dass der Staat es ist, der genau diese Selektion betreibt. Entgegen Hobsbawms Diagnose ist in vielen Bereichen gerade nicht das Verschwinden des Staates der Grund für mehr Ungerechtigkeit und soziale Ungleichheit, sondern eine neue staatliche Regulierungs- und Funktionsweise.

Deshalb sind seine Ausführungen über die »Rückkehr zum privaten Unternehmertum im Krieg« nicht falsch. Für viele Regionen der Welt wird der »Zerfall staatlicher Macht« konstatiert, der es gerade ermögliche, dass die Akkumulation von horrendem Reichtum in privater Hand noch zunehme - diesem Zweck dienen die Privatarmeen, die angeblich die Aufgabe haben, freie Märkte herzustellen.

In der Tat: Das beginnende 21. Jahrhundert ist ein günstiger Zeitpunkt, den Prozess der »ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation« zu analysieren - ob in China und in Russland, in Mittel- und Osteuropa, in Lateinamerika und eben auch in den Krisenregionen des Westens.

Eric Hobsbawm: Das Gesicht des 21. Jahrhunderts.
Ein Gespräch mit Antonio Polito. Hanser Verlag, München 2000, 220 S., DM 34